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Bitteres Rot

Bitteres Rot

Titel: Bitteres Rot Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Bruno Morchio
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Bettdecke zusammen, wickelte Tilde darin ein und drängte sie die Treppe hinunter. Auf der Straße wimmelte es von verängstigten Menschen, wohin man auch blickte. Trotz der nächtlichen Kälte glaubte man den verlockenden Duft des nahenden Frühlings riechen zu können. Über den tiefschwarzen Himmel zuckten die |161| silbernen Blitze der Leuchtraketen, sie explodierten und ergossen sich in glitzernden Kaskaden zu Boden. Die Flugabwehr war gegen die Bomber der Angreifer hoffnungslos unterlegen. Die Nacht war erfüllt vom dumpfen Grollen der Flugzeuge, der Boden bebte, als die ersten Bomben detonierten. Die Einschläge tauchten die Dächer Sestris in taghelles Licht, überall loderten Flammen. Die Luft war erfüllt von beißendem Rauch, der in den Augen brannte und das Atmen zur Qual werden ließ. Sie mussten sich beeilen und den Bunker erreichen, bevor ihre Mutter einen Anfall bekam.
    Tilde blieb plötzlich stehen, mitten auf der Via Chiaravagna, die zerschlissene Decke wie einen schützenden Schleier um sich gewickelt. In diesem Augenblick stürzte eine junge Frau mit verwuschelten braunen Haaren auf sie zu. Tilde erkannte sie sofort, es war die Tochter ihrer Nachbarin Maria. Ihr Bruder, ein begeisterter Musiker, war nach Deutschland deportiert worden, mit ihrer kleinen Schwester hatte sie als Kind oft gespielt. Sie war auf der Suche nach ihrer Familie. Die Angst stand ihr ins Gesicht geschrieben.
    »Ciao, Tilde, hast du sie gesehen?«
    »Deine Familie ist in Sicherheit.« Tilde fiel ein, dass die junge Frau mit dem Arbeiter verheiratet war, der ihr vor dem Werkstor bei Fossati von den beiden Fahnen erzählt hatte, die die Partisanen auf dem Hauptquartier der Faschisten gehisst hatten.
    Die Frau drückte sie dankbar und fragte: »Und du, worauf wartest du noch?«
    Tilde blickte zum Himmel, an dem inzwischen wieder Stille eingekehrt war. Hatten die ach so spendablen Alliierten eine letzte Bombe in Reserve? Eine Bombe für sie und das Kind, das sie im Bauch trug.

|162| Die Jagd beginnt
    Am nächsten Morgen war ich wieder auf dem Weg ins Krankenhaus San Martino. Es war gegen elf. Ein starker Wind stemmte sich mir entgegen, dessen peitschende Nordost-Böen die Vespa tänzeln ließen wie ein nervöses Pferd. Ich fuhr die Via Rivoli hinunter bis zum Corso Aurelio Saffi, wo sich der Golf von Genua in all seiner Pracht präsentierte. Den Moloch Stadt hatte ich hinter mir gelassen, vor mir lag das türkisblaue Meer.
    Kaum hatte ich das Krankenhaus betreten, war ich wie im Fieberwahn. Ich bildete mir ein, Jasmines Zustand habe sich gebessert. Aber die Gewissheit, dass dahinter nur ein Wunsch steckte, der sich bei näherer Betrachtung in Luft auflöste, versetzte mich in quälende Unruhe. Obwohl es noch zwei Stunden bis zur offiziellen Besuchszeit waren, stand die Tür zur Station offen. Im Flur schob derselbe Polizist Wache wie damals, als ich den Deutschen kennenlernte. Wie damals las er eine Sportzeitung, hob den Kopf, ließ ihn aber sofort wieder sinken, nachdem er mich mit einem mitleidigen Lächeln bedacht hatte.
    Ich ging weiter. Die beiden Stationsschwestern schienen mich gar nicht zu bemerken, so konzentriert waren sie auf ihre Arbeit. Wie ein Dieb schlich ich in Jasmines Zimmer und schloss die Tür hinter mir. Das zweite Bett war leer. |163| Jasmine lag noch immer im künstlichen Koma. Grelles Neonlicht flutete über ihren reglos daliegenden Körper. Erschüttert dachte ich daran, wie tief das Dunkel war, in das ihr Bewusstsein eingetaucht war. Ich nahm mir einen Metallstuhl und rückte ihn vors Bett. Dort saß ich ganz still und schaute sie an. Ich rückte näher, trotzdem konnte ich sie nicht erreichen. Niemand konnte das.
    Sie war intubiert, deshalb war kein Atemgeräusch zu hören, aber so wie es aussah, schien sie ruhig zu schlafen. Kopf und Hals waren dick bandagiert, aber was unter den schneeweißen Binden frei geblieben war, ließ mich zusammenzucken. Ihr einstmals schönes Gesicht wirkte eingefallen und grau. Ich schlug das Laken zurück. Ihr Körper steckte in einem sterilen Krankenhausnachthemd und war nicht mehr wiederzuerkennen, ihre schokoladenbraunen Arme und Beine waren abgemagert, sie schien um Jahrzehnte gealtert, glich einer vertrockneten Frucht, welk und eingeschrumpelt. Von Jasmines animalischer Wildheit war nichts geblieben, die geschmeidige Dschungelkatze war erschöpft und ausgelaugt. Ausgelaugt wie der Boden Afrikas, ein Kontinent ohne Hoffnung. Was seinen Bewohnern blieb, war die

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