Bittersuess
Platzen. „Das kommt so nicht in Frage, Stella. Warte die Semesterferien ab und dann kannst du ja immer noch…“
„Nein, Papa. Ich muss das jetzt tun. Es ist wichtig für mich, bitte versteh’ das. In den letzten Wochen hab ich nur so vor mich hin vegetiert, ich brauche wieder eine Perspektive – und das kann ich nur, wenn ich von hier verschwinde. Ich muss mein Leben neu ordnen, und diese Reise gehört dazu“, erkläre ich ihm.
„Du hättest eine Therapie machen sollen, ich hab es immer gesagt“, motzt meine Mutter dazwischen.
„Du willst alleine fahren?“, hakt Papa nach, er wirkt nicht mehr ganz so abweisend.
„Ja“, nicke ich.
„Sag uns doch wenigstens, wohin“, bittet er mich.
„Das kann ich nicht, ich werde es euch vielleicht irgendwann sagen – aber nicht jetzt“, ich schaue ihn flehend an.
„Aber es ist nicht gefährlich, oder?“
„Nein“, antworte ich bestimmt. Zumindest hoffe ich das. Aber ich habe mich informiert, wenn ich mich nicht zu aufreizend kleide und mich ‚angemessen’ verhalte, habe ich wohl nichts zu befürchten. Auf jeden Fall nicht mehr, als in anderen Orten auf der Welt auch. Und ich habe auch nicht vor, mich in Bars herumzutreiben oder nachts durch einsame Gassen zu laufen.
„Schlag dir das aus dem Kopf“, meine Mutter funkelt mich böse an.
„Warte Marianne“, mein Vater klingt besänftigt. „Wenn sie sagt, dass es wichtig für sie ist, dann soll sie das machen.“
„Spinnst du jetzt, Martin?“, ihre Stimme wird immer schriller.
„Ich habe keine Lust mehr dabei zuzusehen, wie Stella vor sich hin leidet. Und das tut sie ja ganz offensichtlich. Seit ihrer Befreiung hab ich sie schon nicht mehr so entschlossen erlebt“, sagt er ernst zu meiner Mutter, dann kommt er auf mich zu und umarmt mich. „Du bist ein großes Mädchen, mein Schatz. Mach das so, wie du es dir vorgenommen hast. Aber lass uns immer wissen, wie es dir geht, ja?“
Ich erwidere seine Umarmung und drücke ihn fest an mich. „Ja, Papa“, sag ich mit heiserer Stimme, wieder treten Tränen in meine Augen. „Das mache ich ganz bestimmt.“
„Kann ich dann in deiner Wohnung so zwei oder drei Feten machen?“, unterbricht Jonas den Moment und ich muss glucksen.
„Wenn du danach auch wieder renovierst“, ich stupse ihn auf die Nase.
„Lässt sich machen“, grinst er frech.
Eine Woche später ist es dann endlich soweit. Mein Vater hat mir eine großzügige Summe auf mein Konto überwiesen und ich bin froh, dass er nicht einmal nachgefragt hat.
Ich hab ihnen nur mitgeteilt, wann ich abreise, keiner soll mich zum Flughafen begleiten. Jenny und Markus waren ebenso überrascht, aber auch ihnen habe ich nichts erzählt.
Sie waren entsetzt, wollten unbedingt, dass ich eine Kontaktadresse dalasse, aber das geht natürlich nicht. Der Name Molina ist ja leider auch für Jenny ein Begriff geworden.
Wenn mir wirklich etwas passieren sollte, dann soll es wohl auch so sein. Ich habe überhaupt keine Angst. Ich will nur Klarheit. Und das so schnell wie möglich.
Der Flug ist anstrengend, ich bin eh kein Mensch, der gerne fliegt. Ich habe halt Angst, natürlich hab ich Angst, wieso sollte ich DAVOR keine Angst haben? Jetzt muss ich noch fast sechshundertfünfzig Kilometer zurücklegen und fahre zum Bahnhof. Die Anbindung klappt nicht so, wie ich es mir vorstelle, aber welche Bahn in welchem Land ist schon pünktlich?
Für die Strecke brauche ich knapp einen ganzen Tag, schlafen kann ich nicht, aber dafür lerne ich eine nette argentinische Familie kennen und unterhalte mich mit ihnen. So kann ich auch mein Spanisch ausprobieren. Anfangs bin ich sehr gehemmt, aber sie ermutigen mich freundlich, immer mehr zu erzählen und nach Anfangsschwierigkeiten klappt es sogar ganz gut.
Und so ha be ich wenigstens auch keine Gelegenheit, mich meiner immer stärker werdenden Nervosität hinzugeben.
Ich bin die Einzige, die an dem kleinen Bahnhof aussteigt. Zu allem Überfluss regnet es jetzt auch noch, aber wenigstens ist es nicht kalt. Es sind noch siebzig Kilometer – für den Rest des Weges werde ich mir wohl ein Taxi gönnen, entschlossen verlasse ich den Bahnhof.
Der Plan mit dem Taxi scheint wohl nicht so ganz aufzugehen, wie ich frustriert feststellen muss, denn ich sehe kein einziges. Genau genommen sehe ich noch nicht einmal einen Taxistand, sondern nur eine Bushaltestelle. Zögernd gehe ich darauf zu.
Der Regen ist unvermindert stark. Was bin ich froh, dass mein Vater eine
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