Bittersuesser Verrat
beschleunigte und in die Nacht davonfuhr.
Mom klopfte an die Tür. Claire konnte ihre Eltern an der Art, wie sie klopften, unterscheiden. »Herein!«
Als ihre Mutter nichts sagte, drehte sich Claire um, um sie anzuschauen. Sie sah müde und besorgt aus und Claire fragte sich, ob sie genug schlief. Wahrscheinlich nicht.
»Ich wollte dir nur sagen, dass ich einen Teller für dich in den Kühlschrank gestellt habe, falls du hungrig bist«, sagte Mom. »Hattest du einen schönen Tag?«
Claire hatte keine Ahnung, wie sie darauf antworten sollte, ohne total bescheuert rüberzukommen. Deshalb beließ sie es schließlich bei einem »Er war ganz okay«. Sie hoffte, dass der Schal, den sie sich um den Hals gewickelt hatte, die blauen Flecken verdeckte, die inzwischen in den üppigen Farben des Sonnenuntergangs schillerten.
Mom wusste, dass das keine aussagekräftige Antwort war, aber sie nickte. »Solange du in Sicherheit bist.« Womit sie weniger die Vampire, sondern vielmehr Shane meinte. Claire verdrehte die Augen.
»Mom.«
»Ich meine das ernst.«
»Ich weiß.«
»Dann sieh mich nicht so an, als wäre ich ein Idiot. Ich will doch nur nicht, dass dir jemand wehtut. Ich bezweifle nicht, dass Shane es gut meint, aber ihr seid noch so...« Ihre Mom suchte nach einem anderen Wort, benutzte dann aber doch das, was kommen musste. »... so jung.«
»Nicht so jung wie zu dem Zeitpunkt, als dieses Gespräch begonnen hat.«
»Claire.«
»Sorry.« Sie gähnte. »Bin müde.«
Ihre Mom umarmte sie, küsste sie auf d ie Wange und sagte: »Dann ruh dich aus. Ich lasse dich morgen ausschlafen.«
***
Am nächsten Tag verpasste Claire die erste Vorlesung, weil ihre Mom Wort gehalten und ihr Wecker ihr den Dienst versagt hatte.
Oder vielleicht hatte Claire ihn auch ausgeschaltet, ohne richtig wach geworden zu sein. Um zehn Uhr stand sie schließlich auf, glücklich und voller Tatendrang. Das könnte am Schlaf gelegen haben, aber Claire wusste, dass etwas anderes dahintersteckte.
Es war Shane, der sie so beflügelte.
Sie genoss es, zu Fuß zum Campus zu gehen - die Sonne war herausgekommen, ihre Strahlen wärmten die Straßen auf und brachten eine sanfte Brise mit sich, die nach frischem Gras duftete. Die Bäume waren voller junger grüner Blätter und in den Gärten blühten die Blumen.
Claire war so guter Laune, dass sie nicht einmal zusammenzuckte, als sie Kim sah, die mit ihrer Videoausrüstung bewaffnet war.
Zumindest nicht so sehr.
Kim beachtete sie nicht, was nichts Neues war; sie hatte die Kamera auf einen Typen in TPU-Jacke gerichtet, der einen Fußball warf und über ihre Witze lachte. Kim umkreiste ihn, winkte und filmte immer weiter, während sie sich einer Gruppe Mädchen näherte, die unter einer weitläufigen Lebenseiche campierte. Noch mehr Gelächter und überall lächelnde Gesichter.
Bin ich wirklich die Einzige, die sie nicht mag?
Offensichtlich schon.
Kim bemerkte sie ungefähr zur selben Zeit, wie Claires Handy klingelte. Sie drehte Kim - und der Kamera - den Rücken zu und ging ran, ohne vorher auf das Display zu schauen, weil sie so verunsichert war. »Hallo?«
»Du Miststück.« Es war Monicas Stimme. »Wo bist du?«
»Bist du auf dem Campus?«
Claire blinzelte und ging einer Gruppe von Studenten aus dem Weg, die aus dem Englisch-Gebäude herauskamen. » Ähm, nein. Und warum bin ich bitte ein Miststück?«
»Ich muss mich verbessern. Du bist ein verlogenes Miststück. Ich kann die Glocken hören!« Monica meinte das Glockenspiel des Campus-Glockenturms, das zu jeder vollen Stunde eine silberhelle Melodie spielte. Aus irgendwelchen unerfindlichen Gründen waren es Weihnachtslieder. Vielleicht hatte jemand vergessen, sie umzustellen - oder mochte einfach »Stille Nacht«. »Wo bist du? Vergiss es, ich sehe dich. Bleib genau da stehen.«
Monica legte auf. Claire schaute sich um und sah, dass Kim sie filmte - und Monica die Treppe des Englisch-Gebäudes herunterstürzte und auf sie zukam. Ihre Eskorte folgte ihr wie ein Kometenschweif. Sie bestand dieses Mal nicht nur aus Gina und Jennifer; sie hatte noch zwei fremde Mädchen in frühlingshaften Designer-Kleidern und hübschen Schuhen aufgegabelt, sowie ein paar massige Typen, die aussahen, als würden sie Fußball spielen - sie waren nichtssagend, gut aussehend und nicht besonders klug, genau wie Monica Jungs mochte.
Claire dachte darüber nach wegzulaufen, aber nicht wenn Kim das Ganze fröhlich filmte. Mit der Schande hätte sie leben
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