Bittersuesser Verrat
euch davon ab.« Er legte die Gitarre beiseite und die Fingerspitzen zusammen. »Aber ich glaube, ihr seid nicht töricht genug, dass ihr dorthin gehen würdet, weil es den Kick gibt, also habt ihr einen Grund. Verratet ihn mir.«
Claire wechselte einen raschen Blick mit ihren Freunden, dann sagte sie: »Michael ist allein dorthin gegangen. Wir müssen ihm helfen.«
»Michael ist ein Vampir. Vampire gehen bei Nacht aus.« Myrnin zuckte mit den Schultern und zupfte ein paar Flusen von seinem schwarzen Samtjackett, das ziemlich elegant aussah, wenn er auf dem Weg zu einem Kostümfest gewesen wäre. »Warum solltet ihr euch Sorgen machen, wenn ihr nicht vermuten würdet, dass es Schwierigkeiten gäbe? Hör auf zu lügen, indem du Dinge verschweigst, Claire. Erzähl mir alles! Sofort!«
Eve schüttelte den Kopf, ein winziges Rucken, das wahrscheinlich nicht beabsichtigt war. Selbst Shane sah aus, als wäre er von der Idee nicht wirklich begeistert. Claire erwiderte aber: »Wir können ihm vertrauen. Wir müssen ihm vertrauen.«
»Oh, das kann ja interessant werden«, sagte Myrnin und beugte sich in Michaels Sessel vor. »Bitte, fahr fort.«
Das tat sie. Sie holte sogar eine der drahtlosen Kameras von oben, zeigte sie ihm und erklärte, wie sie funktionierte, was für sein obsessiv wissenschaftliches Wesen eine wahre Wonne war. »Aber das ist wunderbar«, sagte er und drehte das kleine Gerät zwischen seinen flinken Fingern. »Dieses Mädchen ist ein ziemlich unternehmerisches kleines Ding. Wie viele davon sagtest du?«
»Wir gehen von zweiundsiebzig aus.«
Sein Lächeln erlosch und er war ganz auf den Gegenstand in seiner Hand fixiert. »Dann kann sie das nicht allein getan haben. Es muss einen höheren Zweck geben. Einen größeren Plan. Trotzdem, vielleicht benutzt diese Kim es für ihre eigenen Zwecke; habt ihr darüber schon einmal nachgedacht?«
»Wir wissen, dass sie auch davon profitiert«, antwortete Claire. »Aber wollen Sie damit sagen... es war gar nicht ihre eigene Idee?«
»Genau.«
Also war Kim vielleicht angeheuert worden, die Kameras zu installieren. Und dann hatte sie sie für ihren eigenen Traum vom Reality-Show-Projekt gekapert... aber das bedeutete, dass jemand anderes verantwortlich war.
Jemand, der klug genug war, nicht gefasst oder auch nur verdächtigt zu werden.
»Das solltet ihr wirklich Oliver erzählen«, sagte Myrnin. »Ich weiß, dass er nicht der angenehmste aller Bündnispartner ist, aber unter den richtigen Umständen ist er sehr effektiv. Wie eine dieser Atombomben.«
»Wenn wir es Oliver erzählen, ist Kim tot«, sagte Eve. »Sie mag ja ein unglaubliches Miststück sein, aber dass sie hingerichtet wird, will ich auch wieder nicht.«
»Das lass ich gelten«, stimmte Myrnin zu. »Wenn das allerdings schiefgeht, ist sie so oder so tot. Ich werde mitkommen. Ihr braucht eine erwachsene Aufsichtsperson.«
»Ich sag nur Häschenhausschuhe«, sagte Shane. »Ich mein ja nur.«
»Sie könnten schmutzig werden, ich komme gleich wieder.« Myrnin sprang aus dem Sessel und stürzte durch das Portal. Es schnappte mit einem Energiestoß hinter ihm zu.
»Glaubt ihr...«
Bevor Shane die Frage beenden konnte, öffnete sich das Portal erneut und Myrnin hüpfte auf einem Fuß herein, weil er gerade massive Piratenstiefel anzog, diese kniehohen mit Aufschlägen aus Leder. Er zog den linken vollends an und posierte für Claire, als würde er gerade weglaufen. »Besser?«
»Äh... ja. Ich glaube schon.« Jetzt sah er aus wie dieser debile Pirat, der immer auf Rumflaschen abgebildet war.
»Dann mal los.«
Als er sich umdrehte, um sich auf das Portal zu konzentrieren, zupfte Eve Claire am T-Shirt.
»Was?«
»Frag ihn, woher er die Stiefel hat.«
»Frag ihn doch selbst.« Claire hätte viel lieber die Häschenhausschuhe gehabt.
12
Myrnin brachte sie so nah wie möglich an den Radiosender heran, dennoch waren sie noch einige Häuserblöcke entfernt. Claire war eigentlich ganz froh darüber, dass er sie nicht vorgewarnt hatte, sie war sich nicht sicher, ob sie durch das Portal hätte treten können, wenn sie gewusst hätte, was sie erwartete.
German's Reifenfabrik war vor mindestens dreißig Jahren stillgelegt worden und das gigantische, mehrstöckige Gebäude war im Grunde nichts anderes als eine Goldmine des Gruseligen. Claire war bisher genau zweimal dort gewesen und an keinen ihrer Besuche hatte sie angenehme Erinnerungen - und dabei hatte es sich um Exkursionen bei Tag gehandelt.
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