Black Box
seit drei Monaten wieder hier. Ich bin bei meinen Eltern untergekommen, und allmählich finde ich mich wieder in Monroeville zurecht.«
Ohne den Blick von ihm abzuwenden, nickte sie mit einer Ernsthaftigkeit, die ihm unangenehm war. »Wie läuft es so?«
»Bei mir läuft’s blendend«, log Bobby.
Zwischen den Proben erzählten Bobby, Harriet und Klein-Bobby einander Geschichten, wie sie gestorben waren.
»Ich hab in New York als Komiker gearbeitet«, sagte Bobby und strich sich über seine Kopfwunde. »Als ich die Bühne betrat, ist etwas Fürchterliches passiert.«
»Ja«, sagte Harriet. »Dein Auftritt.«
»Etwas, was noch nie zuvor passiert war.«
»Haben die Leute etwa gelacht?«
»Ich war so brillant wie immer. Die Leute haben sich vor Lachen richtig gekugelt.«
»Vor Schmerzen, meinst du wohl.«
»Und dann, als ich mich das letzte Mal verbeugte, kam es zu einem entsetzlichen Missgeschick. Ein Bühnenarbeiter, der über mir im Gebälk saß, ließ einen zwanzig Kilo schweren Sandsack fallen – mir direkt auf den Kopf. Aber wenigstens bin ich gestorben, während die Leute Beifall klatschten.«
»Sie haben dem Bühnenarbeiter applaudiert«, sagte Harriet.
Der kleine Junge blickte mit ernster Miene zu Bobby hoch und nahm seine Hand. »Es tut mir leid, dass es dich am Kopf erwischt hat«, sagte er. Er drückte Bobby einen trockenen Kuss auf die Fingerknöchel.
Bobby starrte ihn sprachlos an. Seine Hand kitzelte, wo Klein-Bobbys Mund sie berührt hatte.
»Er ist schon immer das verschmusteste, anhänglichste Kind gewesen, das man sich vorstellen kann«, sagte Harriet. »All die aufgestaute Zuneigung muss irgendwie raus. Beim geringsten Anzeichen von Schwäche küsst er dich ab.« Als sie das sagte, wuschelte sie dem Jungen durchs Haar. »Und wie bist du gestorben, Kleiner?«
Klein-Bobby hob die Hand und wackelte mit dem Daumen. »Ich hab mir in Dads Tischsäge die Finger abgeschnitten und bin verblutet.«
Harriet lächelte weiter, aber ein leichter Schleier legte sich über ihre Augen. Sie kramte in ihrer Hosentasche und holte einen Vierteldollar hervor. »Hol dir mal einen Kaugummi, Kleiner.«
Er schnappte sich die Münze und rannte davon.
»Die Leute müssen denken, dass wir die leichtsinnigsten Eltern der Welt sind«, sagte sie und schaute ausdruckslos ihrem Sohn hinterher. »Dabei ist niemand schuld daran, dass er die Finger verloren hat.«
»Aber selbstverständlich«, sagte Bobby. Seine Stimme kam ihm selbst ausdruckslos vor. Sie schien es nicht zu bemerken. Sie schien ihn nicht einmal gehört zu haben.
»Die Tischsäge war ausgesteckt, und er war noch nicht mal zwei. Vorher hat er noch nie einen Stecker irgendwo reinbekommen. Wir hatten keine Ahnung, dass er das konnte. Dean stand direkt daneben, als es passierte. Alles ging so schnell! Du machst dir ja keine Vorstellung, was alles gleichzeitig schiefgehen muss, damit so was passiert! Dean glaubt, dass Bobby erschrocken ist, als die Säge aufheulte, und dann nach oben langte, um sie auszuschalten. Er hatte Angst, dass wir ihn ausschimpfen würden.« Sie schwieg einen Moment und beobachtete ihren Sohn, der gerade am Kaugummiautomaten herumhantierte. »Ich dachte immer, dass mein Kind die einzige Sache in meinem Leben sein wird, bei der ich alles richtig mache. Das wollte ich ausnahmsweise mal nicht verpfuschen. Ich hab mir vorgestellt, dass er, wenn er fünfzehn ist, mit dem schönsten Mädchen der Schule schläft. Dass er fünf Instrumente spielen und jeden mit seinem Talent umhauen wird. Er würde der Spaßvogel sein, der jeden kennt.« Sie hielt wieder inne, dann fuhr sie fort: »Jetzt werden die anderen Kinder bestimmt ihren Spaß mit ihm haben. Einfach weil er anders ist als sie. Er wird einen Witz nach dem anderen reißen, um von sich abzulenken.«
In dem darauffolgenden Schweigen schossen Bobby eine ganze Reihe von Gedanken durch den Kopf. Schließlich war er in der Schule ebenfalls der Spaßvogel gewesen. Glaubte Harriet, dass auch er irgendwie anders gewesen war und deshalb dauernd Witze gerissen hatte? Dann fiel ihm ein, dass sie beide den Komiker gespielt hatten, und er dachte: Was ist bei uns schiefgelaufen?
Irgendwas musste schiefgelaufen sein, sonst wären sie jetzt noch zusammen, und der Junge dort am Kaugummiautomaten wäre sein Sohn. Der Gedanke, der ihm als Nächstes durch den Kopf ging, war: Wenn Klein-Bobby sein Sohn gewesen wäre, dann hätte er jetzt noch alle zehn Finger. Er spürte eine furchtbare Wut auf Dean,
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