Black Box
Beifahrersitz geklettert. Warum war der Fahrer nicht ausgestiegen? War er überhaupt noch bei Bewusstsein? War er tot? Meine Beine hörten nicht auf zu zittern. Ich musste daran denken, wie Eddy meiner Hand einen Stoß versetzt hatte, wie der Ziegelstein unter meiner Handfläche hervorgeglitten war, wie er sich überschlagen hatte, gegen die Seite des Öltankwagens geknallt und dann in die Windschutzscheibe des Volvos geflogen war. Ich konnte es nicht mehr rückgängig machen – das wurde mir in diesem Augenblick schlagartig klar, ja, es überkam mich wie eine Offenbarung. Ich betrachtete die Hand, die den Ziegelstein von der Brüstung gestoßen hatte, und sah, dass sie ein Foto umklammert hielt – Mindy Ackers, die das Baumwolldreieck zwischen ihren Beinen erkundete. Ich konnte mich nicht daran erinnern, danach gegriffen zu haben. Wortlos zeigte ich es Eddy. Er sah es an, mit verwirrtem Blick, völlig verblüfft.
»Behalt es«, sagte er. Das waren die ersten Worte, die einer von uns sprach, seit er »Scheiße, nix wie weg hier!« gebrüllt hatte.
Auf dem Weg durch unseren Vorgarten kamen wir an meiner Mutter vorbei. Sie stand neben dem Briefkasten und unterhielt sich mit dem Nachbarn von nebenan. Beiläufig, gedankenverloren strich sie mir über den Hinterkopf, eine flüchtige, vertraute Berührung, die mir einen Schauer den Rücken hinunterjagte.
Ich schwieg, bis wir im Haus waren und in der Diele unsere Stiefel und Mäntel auszogen. Mein Vater war bei der Arbeit, und wo Morris steckte, wusste ich nicht, es war mir auch egal. Das Haus war finster und still und von einem Schweigen erfüllt, als wäre es menschenleer.
Während ich die Cordjacke aufknöpfte, sagte ich: »Wir sollten jemanden anrufen.« Meine Stimme schien weder aus meiner Brust noch aus meinem Hals zu kommen, sondern von irgendwoher, vielleicht aus der Zimmerecke dort, aus dem Stapel von Hüten, der da lag.
»Wen denn?«
»Die Polizei. Um herauszufinden, ob mit den Leuten alles okay ist.«
Eddy war gerade dabei, seine Jeansjacke auszuziehen – jetzt hielt er mitten in der Bewegung inne und starrte mich an. In dem schwachen Licht sah er mit seinem blauen Auge aus, als hätte er einen dramatischen Unfall mit einem Mascarastift gehabt.
Aus irgendeinem Grund redete ich einfach weiter. »Wir könnten ja sagen, dass wir auf der Fußgängerbrücke standen und den Unfall gesehen haben. Wir müssen ja nicht zugeben, dass wir ihn verursacht haben.«
»Wir haben ihn nicht verursacht! «
»Na ja …« Ich wusste nicht, was ich als Nächstes sagen sollte. Das war so glasklar gelogen, dass mir keine Erwiderung einfiel, die nicht nach einer Provokation geklungen hätte.
»Der Ziegel ist dumm gefallen. Wieso soll das unsere Schuld sein?«
»Ich will nur sichergehen, dass alle in Ordnung sind. Da saß ein kleines Kind hinten drin …«
»Scheiße noch mal, da war nix!«
»Na ja …« Ich zögerte erneut, rang mich dann jedoch zu einem Widerspruch durch. »Doch, es war so, Eddy! Seine Mutter hat nach ihm gerufen.«
Einen Moment lang blieb er reglos stehen und musterte mich mit einem Ausdruck trotziger Berechnung auf dem Gesicht. Dann zuckte er steif mit den Schultern und trat sich die Stiefel von den Füßen.
»Wenn du die Polizei anrufst, bring ich mich um«, sagte er. »Dann bist du daran auch noch schuld.«
Ich hatte das Gefühl, ein großer Druck würde sich auf meiner Brust zusammenballen und meine Lunge niederdrücken. Als ich zu sprechen versuchte, klang meine Stimme wie ein schrilles Flüstern. »Mensch, Eddy …«
»Ich meine es ernst. Ich tue es wirklich.« Er hielt kurz inne und fuhr schließlich fort: »Weißt du noch, wie ich dir erzählt hab, dass mein Bruder angerufen hat? Dass er in Detroit haufenweise Kohle macht, indem er Autos ausraubt?«
Ich nickte.
»Das war alles Bockmist. Und weißt du noch, wie ich dir erzählt hab, dass er noch mal angerufen hat, er würd drüben in Minnesota mit rothaarigen Zwillingen vögeln?«
Nach kurzem Zögern nickte ich wieder.
»Das war genauso Bockmist. Ich hab das alles bloß erfunden. Er hat nie angerufen.« Eddy atmete tief durch, und beim Einatmen durchlief ihn ein leichtes Zittern. »Ich hab keine Ahnung, wo er steckt oder was er treibt. Er hat mich nur einmal angerufen, als er noch im Knast saß. Zwei Tage, bevor er ausgebrochen ist. Er klang irgendwie merkwürdig. Als würde er gleich losheulen. Er hat gesagt, ich soll nie was tun, weshalb sie mich einbuchten könnten. Ich musste es ihm
Weitere Kostenlose Bücher