Black Box
einfach einen Ballon nach dem andern fliegen. Ich lief dann zu der Stelle, wo er gelandet war, und wir gingen zu ihm nach Hause und sahen uns auf seinem Laptop die Fotos an. Fotos von Menschen, die in ihren Pools badeten; Fotos von Männern, die Dächer reparierten; Fotos von mir, wie ich in verlassenen Straßen herumstand, mein nach oben gewandtes Gesicht ein winziger Klecks, meine Gesichtszüge zu weit weg, um sie zu erkennen; Fotos, bei denen unten am Rand immer Arts Sneakers zu sehen waren.
Einige seiner besten Bilder waren aus geringer Höhe aufgenommen, Motive, die er geknipst hatte, während er nur ein paar Meter über dem Boden schwebte. Einmal nahm er drei Ballons und ließ sich über Happys Maschendrahtviereck neben unserem Haus treiben. Der Hund hielt sich den ganzen Tag in seinem Verschlag auf, kläffte völlig außer sich Eichhörnchen, den bimmelnden Eiswagen oder junge Frauen mit ihren Kindern an. Er hatte die ganze Erde um sich herum platt getrampelt, überall lagen getrocknete Hundehaufen, und das Zentrum dieser ekligen, braunen Scheißelandschaft bildete Happy selbst. Auf jedem Foto, das Art schoss, sah man ihn hochspringen, mit aufgerissenem Maul, den rosafarbenen Rachen entblößt, mit Augen, die gebannt auf Arts baumelnde Sneakers starrten.
Er tut mir leid. Furchtbar, so zu leben.
»Ach, red doch keinen Scheiß«, sagte ich. »Wenn Kreaturen wie Happy frei rumlaufen dürften, würde die ganze Welt so aussehen. Der will gar nicht woanders leben. Scheißhaufen und Dreck – für ihn ist das der Platz an der Sonne.«
Da bin ich ENTSCHIEDEN anderer Meinung,
erwiderte Art. Allerdings hat die Zeit meine Haltung in diesem Punkt nicht gemildert. Es ist immer noch meine feste Überzeugung, dass mehr Happys – seien es nun Hunde oder Menschen – frei herumlaufen, als eingesperrt sind, und dass sie sich tatsächlich eine Welt aus Dreck und Fäkalien wünschen. Eine Welt, in der es keinen Art oder jemanden wie Art gibt, eine Welt, in der Bücher oder Gott oder Welten jenseits dieser Welt kein Thema sind, eine Welt, in der die einzige Kommunikation aus dem hysterischen Kläffen ausgehungerter, hasserfüllter Hunde besteht.
Eines Samstagmorgens Mitte April kam mein Vater in mein Zimmer und weckte mich, indem er mir meine Sneakers auf das Bett warf. »Du musst in einer halben Stunde beim Zahnarzt sein. Setz deinen Hintern in Bewegung.«
Ich ging also zum Zahnarzt, dessen Praxis nur ein paar Straßen entfernt war, und saß zwanzig Minuten gelangweilt und noch halb schlafend im Wartezimmer, als mir einfiel, dass ich Art versprochen hatte, gleich nach dem Aufstehen bei ihm vorbeizuschauen. Die Sprechstundenhilfe ließ mich von ihrem Telefon aus anrufen.
Arts Mutter hob ab. »Er ist gerade aus dem Haus, er wollte zu dir rüber«, sagte sie.
Ich rief meinen Vater an.
»Nein, ist nicht da gewesen«, sagte er. »Hab ihn nicht gesehen.«
»Halt die Augen offen.«
»Ja, ja. Ich hab Kopfschmerzen. Art weiß ja wohl, wie man klingelt, oder?«
Ich saß mit weit aufgerissenem Mund im Behandlungsstuhl, schmeckte Blut und Menthol und versuchte meine Nervosität und den heftigen Drang zu unterdrücken, sofort aufzustehen und zu gehen. Ich vertraute meinem Vater wohl nicht so recht, dass er sich Art gegenüber anständig aufführte, wenn ich nicht dabei war. Die Zahnarztgehilfin tätschelte mir die Schulter und sagte, ich solle mich entspannen.
Danach stand ich etwas desorientiert unten auf der Straße. Der Himmel war tiefblau, die grelle Sonne stach mir in die Augen. Ich war jetzt seit zwei Stunden auf, fühlte mich aber immer noch nicht richtig wach. Ich trabte los.
Das Erste, was ich vom Bürgersteig aus sah, war Happy – außerhalb seines Verschlags. Er bellte mich nicht einmal an. Den Kopf zwischen den Pfoten lag er im Gras. Er hob schläfrig die Augenlider, beobachtete kurz meinen Anmarsch und klappte sie dann langsam wieder zu. Die Tür des Verschlags stand offen.
Ich sah nach, ob Happy vielleicht auf einem zerfetzten Stück Plastik lag, als ich ein leises Klopfgeräusch hörte. Ich wandte den Kopf und entdeckte Art, der hinten im Kombi meines Vaters saß und mit den Händen gegen die Scheibe patschte. Ich ging zum Wagen und öffnete die Tür. Im gleichen Augenblick schoss Happy bellend aus dem Gras hoch. Mit beiden Armen packte ich Art und rannte los. Happys Zähne erwischten eines meiner flatternden Hosenbeine, ich hörte ein reißendes Geräusch, stolperte, lief weiter.
Lief,
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