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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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war, dass ich in der Brandung gestanden und Art losgelassen hatte. Ich hatte Angst vor dem, was ich in ihren Augen sehen würde, vor ihrem Schmerz, ihrem Zorn.
    Einige Monate, nachdem Arts luftleerer Körper am North Scarswell Beach angeschwemmt worden war, stand vor dem Haus der Roths ein Schild mit der Aufschrift ZU VERKAUFEN. Ich habe sie nicht wiedergesehen. Mrs. Roth schrieb mir manchmal, fragte, wie es mir ginge und was ich so täte, doch ich antwortete nie. Sie unterschrieb ihre Briefe mit In Liebe.
    In der Highschool machte ich viel Leichtathletik. Ich war ziemlich gut in Stabhochsprung. Mein Trainer sagte einmal, dass für mich die Gesetze der Schwerkraft offenbar keine Gültigkeit hätten. Mein Trainer wusste einen Scheiß von Schwerkraft. Egal, wie hoch ich flog, am Ende kam ich immer wieder runter – wie jeder andere auch.
    Jedenfalls verhalf mir der Stabhochsprung zu einem State-College-Stipendium. Ich blieb für mich. Niemand im College kannte mich, und es gelang mir schließlich, mein vor langer Zeit eingebüßtes Image als Soziopath wiederherzustellen. Ich ging nicht auf Partys. Ich hatte keine Dates. Ich wollte niemanden kennenlernen.
    Eines Morgens jedoch, als ich über den Campus ging, kam mir ein junges Mädchen entgegen, dessen schwarzes Haar so schwarz war, dass es den kalten Glanz von Öl hatte. Sie trug einen Schlabberpullover und den knöchellangen Rock einer Bibliothekarin, ein reichlich unerotischer Aufzug. Und doch konnte man sehen, dass sie eine atemberaubende Figur hatte, schlanke Hüften, volle Brüste. Ihre Augen waren aus blauem Glas, ihre Haut war so weiß wie die von Art. Zum ersten Mal, seit er an seinen Ballons davongeflogen war, sah ich eine aufblasbare Person.
    Ein Junge, der hinter mir ging, stieß einen bewundernden Pfiff aus. Ich trat einen Schritt zur Seite, und als er an mir vorbeikam, stellte ich ihm ein Bein. Seine Bücher segelten durch die Luft.
    »Hey«, rief er. »Bist du verrückt, oder was?«
    »Ja«, sagte ich. »Bin ich.«
    Ihr Name war Ruth Goldman. An der rechten Ferse, wo sie als kleines Mädchen in eine Scherbe getreten war, hatte sie einen runden Flicken, und ein größerer viereckiger klebte auf der linken Schulter an der Stelle, wo sie an einem windigen Tag mal von einem spitzen Zweig aufgespießt worden war. Privatunterricht und die obsessive Fürsorge ihrer Eltern hatten sie vor weiterem Schaden bewahrt. Wir hatten beide Englisch als Hauptfach. Ihr Lieblingsschriftsteller war Kafka – weil er das Absurde verstand. Mein Lieblingsschriftsteller war Malamud – weil er die Einsamkeit verstand.
    Im selben Jahr, als ich meinen Abschluss machte, heirateten wir. Obwohl ich weiterhin Zweifel hatte, was das Leben nach dem Tod betraf, konvertierte ich, ohne dass sie mich dazu gedrängt hätte. Aber kann man das wirklich als Konversion bezeichnen? Ich hatte ja gar keinen Glauben, von dem ich hätte übertreten können. Wie auch immer, ich räumte der Frage nach dem Sinn des Ganzen zum ersten Mal in meinem Leben Platz ein, und wir feierten eine jüdische Hochzeit, unter weißem Tuch, mit einem Glas, das ich mit dem Stiefelabsatz zertrat.
    Eines Nachmittags erzählte ich ihr von Art.
    Sie schrieb mit einem Wachsstift:
     
    Das ist traurig. Das tut mir leid.
     
    Sie legte ihre Hand auf meine.
     
    Was ist passiert? Ist ihm die Luft ausgegangen?
     
    »Der Himmel«, sagte ich. »Der Himmel ist ihm ausgegangen.«

Der Gesang der Heuschrecken
1
    Als Francis Kay eines Morgens aus keineswegs unruhigen, sondern eher erhebenden Träumen erwachte, fand er sich in seinem Bett zu einem ungeheuren Ungeziefer verwandelt. Er war darüber nicht weiter überrascht, er hatte sogar damit gerechnet. Nein, das traf es auch nicht ganz: Er hatte sich danach gesehnt, hatte davon geträumt, und obwohl es jetzt zwar nicht genauso gekommen war, wie er gehofft hatte, war es doch immerhin so ähnlich. Er hatte fest daran geglaubt, es würde ihm irgendwann gelingen, telepathisch Macht über eine Horde braun schimmernder Kakerlaken auszuüben und sie klappernd in den Kampf zu schicken. Oder sich, wie in dem Film mit Vincent Price, nur teilweise zu verwandeln, in eine Fliege mit Menschenkopf, mit ekelerregender schwarzer Behaarung und weit hervortretenden Facettenaugen, in denen sich tausend schreiende Gesichter spiegeln.
    Noch immer trug er seine alte Haut wie einen Mantel – die Haut des Menschen, der er gewesen war. Vier seiner sechs Beine ragten aus den Rissen eines stinkenden

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