Black Box
wartete, dass jemand käme und dem allem ein Ende machte. Er hatte rasende Schmerzen in der Schulter. Niemand kam.
Schließlich krabbelte er hervor und beugte sich über seinen Vater. Den Kopf gegen die Wand gelehnt, lag Buddy Ray mit ausgestreckten Armen und Beinen da. Er war immer ein dürrer, halb verhungerter Mann gewesen, doch jetzt, mit dem Kopf auf der Brust, dem Doppelkinn, den schlaffen Hängebacken, wirkte er plötzlich fett und überhaupt nicht mehr wie er selbst. Einen Blick auf Ella zu werfen, auf das, was Ella jetzt war, hätte Francis nicht ertragen können.
Ihm war sterbensübel. Der Druck in seinem Unterleib, den er schon heute morgen verspürt hatte, war wieder da. Er wollte jemandem sagen, wie leid ihm das alles tat, wie schrecklich es war. Wenn er es doch nur rückgängig machen könnte! Aber da war niemand, und selbst wenn, hätte niemand seine Heuschreckenstimme verstanden. Am liebsten hätte er losgeheult. Stattdessen furzte er, und aus seinem Hinterteil schoss schäumende weiße Karbolsäure, spritzte seinem Vater auf den Oberkörper, fraß sich mit einem brutzelnden Zischen durch dessen T-Shirt. Francis drehte den Kopf seines Vaters hin und her, in der Hoffnung, er würde aus einem anderen Blickwinkel aussehen, wie er ihn gekannt hatte. Aber gleich, wie er den Kopf hielt, er blieb ihm fremd.
Plötzlich erfüllte ein Geruch nach angebranntem Schinken die Luft. Francis senkte den Kopf und sah, dass sich im Bauch seines Vaters ein Loch gebildet hatte, aus dem eine rosafarbene, fischige Brühe quoll; an den blutig glänzenden Rippen klebten faserige Knoten halb aufgelösten Gewebes. Er spürte, wie sich sein Magen zusammenzog – er hatte entsetzlichen Hunger. Zögerlich beugte er sich vor, um die zähe Masse mit seinen Fühlern zu inspizieren, und dann konnte er sich nicht mehr zurückhalten. Gierig verschlang er die weichen Eingeweide seines Vaters, fraß Buddy Ray von außen nach innen auf. Dann wankte er davon und kroch benommen unter den Tisch, um sich auszuruhen. Er hatte Magenschmerzen, so voll war er, und ein Summen in den Ohren.
Durch die Fliegentür konnte er ein Stück vom Highway sehen, beobachtete, wie ab und an ein Truck vorbeikam. Die Scheinwerfer wanderten über den Asphalt, einen kleinen Hügel hinauf, der Wüste entgegen. Niemand ahnte etwas. Beim Anblick der Lichtkegel, die so mühelos durch die Finsternis glitten, erinnerte er sich, wie es gewesen war, zu fliegen. Was für ein Gefühl, einfach in den Himmel aufzusteigen!
Jetzt bemerkte er, wie stickig es im Wohnzimmer war. Er setzte sich ächzend in Bewegung, stieß die Fliegentür auf und lief hinaus. Eigentlich war er noch viel zu voll, um zu fliegen. Er lief bis in die Mitte des kiesbedeckten Parkplatzes und legte den Kopf in den Nacken. Die Milchstraße war ein schäumender heller Fluss. Deutlich konnte er im Unterholz die Grillen hören, ein schwermütiges Zirpen, das lauter und leiser wurde, lauter und leiser. Plötzlich hatte er das Gefühl, dass ihr Rufen schon immer ihm gegolten hatte.
Ohne jegliche Angst zu verspüren, setzte er sich auf den Highway und wartete auf einen Lastwagen, auf helles Scheinwerferlicht, das Kreischen der Bremsen, die verängstigten Schreie … Aber die Straße blieb leer. Gemächlich krabbelte er los. Er wusste nicht, wohin er unterwegs war, es war ihm auch egal. Seine Schulter schmerzte nicht mehr so sehr. Die Schrotkörner hatten den Panzer nicht durchdrungen, er war mit ein paar Schrammen davongekommen.
Vor längerer Zeit waren er und sein Vater einmal auf die Müllhalde gegangen und hatten den ganzen Tag mit der Shotgun auf Dosen, Ratten und Möwen geschossen. »Stell dir vor, da sind die verdammten Krauts«, hatte sein Vater gerufen. Francis hatte keine Ahnung, wie deutsche Soldaten aussahen, also hatte er so getan, als würde er auf seine Klassenkameraden schießen. Bei dem Gedanken an diesen Tag ergriff ihn eine schwache Sehnsucht nach seinem Vater – sie hatten auch ihren Spaß miteinander gehabt. Und letztlich hatte Buddy Ray eine gute Mahlzeit abgegeben. Was konnte man von einem Vater mehr verlangen?
Als sich im Osten die erste Morgenröte zeigte, fand sich Francis hinter der Schule wieder. Hatte ihn vielleicht die Erinnerung an den Tag mit seinem Vater hierher getrieben? Er betrachtete den lang gezogenen Backsteinbau mit den schmalen Fenstern und dachte: Was für eine hässliche Heimstatt. Sogar Wespen hatten es da besser! Sie bauten ihre Nester hoch oben in den Bäumen,
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