Black Box
gar nicht daran denken, was ihnen nun drohte. Sein Vater wartete. Max kletterte hinaus und ließ sich in das Blumenbeet fallen. Rudi sah ihn hilflos und mit flehenden Augen an – was sollten sie nur tun? Max wies mit einer Kopfbewegung auf den Stall, wo sich ihr Arbeitszimmer befand, und ging mit langsamen, bedächtigen Schritten davon. Sein kleiner Bruder ging neben ihm her, zitterte allerdings immer noch.
Doch bevor sie noch außer Reichweite waren, legte sich die schwere Hand seines Vaters auf Max’ Schultern.
»Meine Regeln sind dazu da, dich zu beschützen, Maximilian«, sagte er. »Vielleicht willst du mir jetzt sagen, dass du meinen Schutz nicht mehr brauchst? Als du klein warst, hab ich dir die Augen zugehalten, als die Mörder in Richard Clarence umbringen wollten. Später, als wir uns dann Macbeth angeschaut haben, hast du meine Hand weggeschoben, du wolltest zusehen. Jetzt habe ich das Gefühl, dass sich die Geschichte wiederholt, oder nicht?«
Max antwortete nicht. Schließlich ließ sein Vater ihn los.
Sie waren noch keine zehn Schritte gegangen, da sprach er weiter. »Ach, fast hätte ich was vergessen. Ich hab euch nicht gesagt, wo ich vorhin war und warum ich weg war. Ich habe traurige Neuigkeiten für euch. Während ihr in der Schule wart, kam Mr. Kutchner die Straße raufgerannt und hat ›Doktor, Doktor‹ gerufen, ›schnell, meine Frau‹. Kaum hab ich sie gesehen, ganz heiß vor Fieber, wusste ich schon, dass sie sofort in Dr. Rosens Krankenhaus muss. Aber leider ist der Farmer zu spät zu mir gekommen. Als wir sie zum Auto geführt haben, sind ihr mit einem Klatschen die Eingeweide rausgefallen.« Er schnalzte missbilligend mit der Zunge. »Ich werde unsere Anzüge reinigen lassen. Die Beerdigung ist am Freitag.«
Am nächsten Tag kam Arlene Kutchner nicht in die Schule. Auf dem Heimweg schlenderten Max und Rudi bei ihr vorbei, aber die schwarzen Fensterläden waren zu, und das Haus machte einen verlassenen Eindruck. Das Begräbnis würde am nächsten Morgen in der Stadt sein, und vielleicht waren Arlene und ihr Vater bereits zu ihrer Verwandtschaft vorausgefahren. Als die beiden Jungen zu Hause eintrafen, stand der Ford vor dem Haus, und die schräge Doppeltür zum Keller war offen.
Rudi ging direkt zum Stall hinüber – sie hatten ein einziges Pferd, einen heruntergekommenen Klepper namens Rice, und Rudi war heute mit Ausmisten dran. Max ging allein ins Haus. Er saß am Küchentisch, als er die Flügel der Doppeltür draußen zuknallen hörte. Sein Vater kam die Treppe herauf und erschien in der Kellertür.
»Arbeitest du da unten an etwas?«, fragte Max.
Sein Vater ließ den Blick über ihn hinweggleiten, aber seine Augen blieben ausdruckslos.
»Erkläre ich dir später«, sagte er, holte einen silbernen Schlüssel aus der Westentasche und schloss die Kellertür damit ab. Bisher war für die Kellertür noch nie ein Schlüssel benutzt worden, und Max hatte überhaupt nicht gewusst, dass es einen gab.
Max war den ganzen Nachmittag über nervös und blickte immer wieder zur Kellertür hinüber. Der Satz seines Vaters ging ihm nicht mehr aus dem Sinn: Erkläre ich dir später. Natürlich gab es beim Abendessen keine Gelegenheit, mit Rudi darüber zu reden, darüber zu spekulieren, was Vater damit gemeint haben könnte, aber auch hinterher kamen sie nicht dazu, als sie mit ihren Schulbüchern am Küchentisch sitzen geblieben waren. Sonst zog sich ihr Vater immer früh in sein Arbeitszimmer zurück, und sie bekamen ihn bis zum nächsten Morgen nicht mehr zu sehen. Aber heute Abend wirkte er ruhelos, er kam dauernd herein, wusch ein Glas ab, suchte seine Lesebrille und zündete schließlich eine Laterne an. Er stellte den Docht so ein, dass die schwache rote Flamme am Boden des Glaszylinders flackerte, und setzte die Laterne vor Max auf den Tisch.
»Geht nach unten, Jungs«, sagte er, wandte sich der Kellertür zu und schloss sie auf. »Wartet auf mich. Rührt nichts an.«
Rudi wurde bleich und warf Max einen entsetzten Blick zu. Er hielt es im Keller nicht aus, die niedrige Decke, den Geruch und die feinen Schleier der Spinnweben in den Ecken. Immer wenn er dort hinunter musste, um etwas zu erledigen, flehte er Max an, ihn zu begleiten. Max wollte seinen Vater noch etwas fragen, aber der war schon hinausgegangen und durch den Flur in seinem Arbeitszimmer verschwunden.
Max und Rudi sahen einander an. Rudi schüttelte stumm und verzweifelt den Kopf.
»Keine Sorge«, sagte Max.
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