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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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zog die Fotografie seiner Mutter aus dem Rahmen und starrte das Bild, das zum Vorschein kam, verständnislos an. Eisige Taubheit breitete sich in seiner Brust aus und kroch ihm den Rachen hinauf. Er sah sich um und stellte erleichtert fest, dass Rudi noch immer vor der Ottomane kniete, vor sich hin summte und die Pflöcke wieder in das samtene Leichentuch einschlug.
    Er wandte sich wieder der rätselhaften Fotografie zu. Die Frau auf dem Bild war tot. Außerdem war sie oberhalb der Taille nackt, ihr Kleid aufgerissen und bis zu den Hüften heruntergezerrt. Sie lag lang ausgestreckt auf einem Himmelbett, Schnüre waren ihr um den Hals gebunden und hielten ihre Arme über dem Kopf fest. Sie war jung und vielleicht einmal schön gewesen – das ließ sich nur noch schwer sagen. Ein Auge war geschlossen, das andere leicht geöffnet, und darunter war der unnatürliche Glanz ihres Augapfels zu erkennen. Jemand hatte ihr mit Gewalt eine obszöne, unförmige weiße Kugel in den Mund gestopft. Sie hatte die Zähne hineingeschlagen, und ihre Oberlippe entblößte eine Reihe kleiner, gleichmäßiger Zähne. Zwischen den milchig weißen Rundungen ihrer vollen Brüste ragte ein Pflock heraus. Ihr linker Brustkorb war voller Blut.
    In diesem Moment hörte Max das Auto in der Einfahrt, aber er konnte sich nicht rühren, konnte seinen Blick nicht von der Fotografie losreißen. Dann war Rudi aufgestanden, zerrte an seiner Schulter und redete auf ihn ein, sie müssten sofort von hier verschwinden. Max drückte sich das Foto an die Brust, damit sein Bruder es nicht sah. »Hau ab«, sagte er, »ich komme gleich.« Rudi nahm die Hand weg und lief los.
    Max versuchte verzweifelt, das Foto der ermordeten Frau wieder in den Bilderrahmen zu bekommen … dann entdeckte er noch etwas anderes und erstarrte. Bisher war ihm die Gestalt ganz links auf dem Bild noch nicht aufgefallen – neben dem Bett stand ein Mann. Er hatte dem Fotografen den Rücken zugewandt und war so weit im Vordergrund, dass seine Umrisse verschwammen und er mit seinem flachkrempigen Hut und dem schwarzen Überzieher entfernt einem Rabbiner glich. Es ließ sich nicht mit Bestimmtheit sagen, wer dieser Mann war, aber Max war sich trotzdem sicher – er erkannte ihn daran, wie er den Kopf hielt, der steif auf einem tonnenförmigen Nacken saß. In der einen Hand hielt er ein Beil. In der anderen eine Arzttasche.
    Der Motor erstarb mit einem asthmatischen Keuchen und einem blechernen Krachen. Max schob die Fotografie der Toten in den Rahmen zurück und legte das Porträt von Mina darauf. Er stellte den Rahmen – ohne Glas – auf den Beistelltisch, warf einen letzten Blick darauf und bemerkte mit Entsetzen, dass er Mina falsch herum hineingetan hatte.
    »Komm schon!«, rief Rudi. »Max, bitte!« Er stand auf Zehenspitzen vor dem Fenster und spähte ins Arbeitszimmer.
    Max schob die Glasscherben mit dem Fuß unter den Lehnstuhl, stürzte zum Fenster und wollte schreien, aber es blieb nur bei dem Versuch – er hatte nicht genug Luft in der Lunge, um sie in den Rachen hinaufpressen.
    Ihr Vater stand hinter Rudi und starrte über dessen Kopf hinweg zu Max. Rudi hatte ihn nicht bemerkt, wusste nicht, dass er da war, bis ihm ihr Vater die Hände auf die Schultern legte. Rudi hielt nichts davon ab, einen richtigen Schrei auszustoßen, und er sprang in die Höhe, als ob er in das Arbeitszimmer zurückklettern wollte.
    Schweigend musterte der Alte seinen ältesten Sohn. Max erwiderte seinen Blick, den Kopf halb aus dem Fenster, die Hände auf dem Sims.
    »Wenn ihr wollt«, sagte ihr Vater, »kann ich euch die Tür aufschließen, und ihr könnt über den Flur rausgehen. Das ist zwar nicht so dramatisch, dafür aber einfacher.«
    »Nein«, erwiderte Max. »Nein danke. Danke. Ich … wir … das ist … ein Versehen. Tut mir leid.«
    »Es ist ein Versehen, in einer Klassenarbeit in Erdkunde die Hauptstadt von Portugal nicht zu wissen. Das hier ist was anderes.« Er hielt inne und senkte seinen Kopf mit versteinertem Gesicht. Dann ließ er Rudi los, wandte sich um, öffnete die Hand und wies mit einer Geste auf den Hof, die besagen mochte: Hier entlang. »Darüber reden wir ein andermal. Wenn es euch nichts ausmacht, wär’s mir jetzt recht, ihr würdet mein Arbeitszimmer verlassen.«
    Max starrte ihn an. Bei seinem Vater folgte die Strafe sonst immer auf den Fuß. Wer unerlaubt in sein Arbeitszimmer eindrang, musste wenigstens damit rechnen, ordentlich ausgepeitscht zu werden. Er wollte

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