Black Box
Möbel sprangen kurz in die Höhe. Der Beistelltisch fiel um, und alles, was darauf lag, rutschte herunter. Max hörte einen Knall und das Klirren von Glas, das ihm mehr wehtat als der Schmerz in Kopf und Schulter.
Rudi kauerte einen Meter von ihm entfernt auf dem Boden und grinste noch immer dümmlich. Den Brief hielt er halb zerknittert in der Hand – anscheinend hatte er ihn völlig vergessen.
Der Beistelltisch war zwar umgefallen, dabei aber glücklicherweise nicht zu Bruch gegangen. Neben Max’ Knie lagen jedoch die Scherben eines leeren Tintenfasses. Ein Stapel Bücher war auf dem Perserteppich gelandet. Einige Blätter segelten durch die Luft und landeten mit einem sanften Rascheln auf dem Boden.
»Schau nur, wozu du mich gezwungen hast«, rief Max und deutete auf das Tintenfass. Dann zuckte er zusammen, genau dasselbe hatte nämlich sein Vater erst vor wenigen Tagen zu ihm gesagt. Er mochte es nicht, wenn der Alte scheinbar in ihn hineinschlüpfte und dann wie eine Holzpuppe, eine ausgehöhlte, strohdumme Marionette aus ihm sprach.
»Wir schmeißen es einfach weg«, sagte Rudi.
»Er weiß genau, wo was in seinem Arbeitszimmer ist. Er merkt sofort, wenn was fehlt.«
»Ach, das ist doch scheißegal. Der kommt hier nur rein, um Brandy zu trinken, in den Sessel zu furzen und dann einzuschlafen. Ich war schon oft hier drin. Letzten Monat hab ich ihm sein Feuerzeug geklaut, und er hat’s immer noch nicht gemerkt.«
»Du hast was?« Max starrte seinen jüngeren Bruder wie vom Donner gerührt und nicht ohne Neid an. Eigentlich war es doch die Aufgabe des großen Bruders, unsinnige Risiken einzugehen und später scheinbar beiläufig davon zu erzählen.
»An wen ist der Brief denn, dass du dich so verstecken musstest, um ihn zu schreiben? Ich hab dich dabei beobachtet. ›Ich kann noch deine Hand in meiner spüren.‹« Rudis Stimme hob und senkte sich in gespielt romantischer Leidenschaft.
Max machte einen Satz nach vorn, aber er war zu langsam – Rudi hatte den Brief schon umgedreht und las den Anfang. Sein Lächeln verschwand, und auf seiner Stirn bildeten sich nachdenkliche Falten. Dann riss ihm Max das Blatt aus der Hand.
»Mutter?«, sagte Rudi, zutiefst verblüfft.
»Das ist ein Schulaufsatz. Wir sollen einen Brief schreiben, egal, an wen. Mrs. Louden hat gesagt, es kann auch eine erfundene oder historische Gestalt sein oder jemand, der tot ist.«
»Und das willst du abgeben? Und Mrs. Louden liest es dann?«
»Weiß noch nicht. Ist noch nicht fertig.« Noch während er sprach, wurde Max klar, dass es ein Fehler gewesen war, sich von den faszinierenden Möglichkeiten eines Schulaufsatzes so mitreißen lassen, von diesem unwiderstehlichen Was wäre wenn?. Er hatte viel zu persönliche Sachen geschrieben, die man unmöglich jemandem zeigen konnte. Du warst die Einzige, mit der ich reden konnte, stand da, und: Manchmal bin ich so einsam. Er hatte sich sogar schon ausgemalt, wie es wäre, wenn sie es lesen würde, irgendwie, irgendwo – vielleicht sogar noch während er schrieb. Sie wäre eine Art Lichtgestalt, die ihm über die Schulter schauen und gefühlvoll lächeln würde, während seine Feder über die Seiten kratzte. Ein rührselige, absurde Vorstellung, und es war ihm entsetzlich peinlich, dass er sich dazu hatte hinreißen lassen.
Mutter war bereits schwach und krank gewesen, als ihre Familie Amsterdam aufgrund des Skandals verlassen musste. Für eine Weile lebten sie in England, aber bald wurde auch dort ruchbar, was ihr Vater Entsetzliches getan hatte. (Max hatte keine Ahnung, was es war, und er bezweifelte, dass er es jemals herausfinden würde.) Sie waren nach Amerika weitergezogen, ihr Vater in der Überzeugung, dass ihm eine Dozentenstelle am Vassar College sicher war, und so hatte er mit einem Großteil ihrer Ersparnisse eine hübsche Farm ganz in der Nähe gekauft. In New York City trafen sie dann aber mit dem Dekan zusammen, und der teilte Abraham Van Helsing mit, dass er dem Doktor nicht mit gutem Gewissen gestatten könne, unbeaufsichtigt mit jungen Damen zu arbeiten, die noch nicht das Mündigkeitsalter erreicht hatten. Inzwischen war sich Max sicher, dass sein Vater die Schuld am Tod seiner Mutter trug – ebenso gut hätte er sie im Krankenbett mit einem Kissen ersticken können. Nicht nur die Reise hatte sie umgebracht, obwohl die schon schlimm genug gewesen war für eine Frau, die schwanger und von einer chronischen Blutinfektion so geschwächt war, dass sie bei der
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