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Black Box

Black Box

Titel: Black Box Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Joe Hill
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leichtesten Berührung einen Bluterguss bekam. Es war auch die Demütigung. Mina konnte mit der Scham über das, was er getan hatte und vor dem sie alle hatten fliehen müssen, nicht weiterleben.
    »Komm«, sagte Max. »Wir räumen auf und verschwinden dann von hier.«
    Er richtete den Tisch auf, sammelte die Bücher ein, wandte sich jedoch um, als Rudi fragte: »Max, glaubst du eigentlich an Vampire?«
    Rudi kniete auf der anderen Seite des Zimmers vor einer Ottomane. Er hatte sich über ein paar Blätter gebeugt, die dort gelandet waren, und jetzt betrachtete er die verbeulte Arzttasche, die darunterstand. Rudi zupfte an dem Rosenkranz, der am Griff festgeknotet war.
    »Lass das in Ruhe«, sagte Max. »Wir müssen jetzt aufräumen, nicht noch mehr Unordnung machen.«
    »Ich hab dich was gefragt.«
    Max schwieg einen Moment lang. »Mutter ist überfallen worden. Danach stimmte etwas mit ihrem Blut nicht mehr, daher ihre Krankheit.«
    »Hat sie jemals gesagt, dass sie überfallen wurde, oder weißt du das von ihm?«
    »Sie ist gestorben, als ich sechs war. Mit einem Kind hätte sie doch über so was nicht geredet.«
    »Aber … glaubst du, dass wir in Gefahr sind?« Rudi hatte die Tasche geöffnet, griff hinein und holte ein Bündel hervor, das sorgsam in dunkelroten Samt eingeschlagen war. Darin schlug etwas Hölzernes aufeinander. »Dass uns da draußen Vampire auflauern? Darauf warten, dass wir mal nicht aufpassen?«
    »Ich würde die Möglichkeit zumindest nicht ausschließen. Auch wenn’s unwahrscheinlich ist.«
    »Auch wenn’s unwahrscheinlich ist«, sagte sein Bruder und lachte leise. Er schlug das Samttuch auf und betrachtete die neun Zoll langen Pflöcke, deren Griffe in geöltes Leder gewickelt waren. »Tja, ich halte das für Bockmist. Bock -mist.« Er sang es fast.
    Diese Wendung ihres Gesprächs gefiel Max überhaupt nicht. Für einen Moment wurde ihm schwindlig, als stünde er vor einem bodenlosen Abgrund. Aber vielleicht war das gar nicht so falsch. Er hatte schon immer gewusst, dass er und Rudi eines Tages darüber reden mussten, und er hatte Angst, wohin das führen würde. Rudi debattierte nur allzu gern, aber er zog nie die richtigen Schlüsse aus seinen Zweifeln. Er konnte behaupten, das alles sei Bockmist, aber er dachte nicht darüber nach, was das letztlich über ihren Vater aussagte – einen Mann, der sich vor der Nacht fürchtete wie ein Nichtschwimmer vor dem Ozean. Max brauchte geradezu die Gewissheit, dass es Vampire gab, die logische Schlussfolgerung – dass ihr Vater nämlich seit Jahren von einem psychotischen Hirngespinst besessen war – war nämlich zu schrecklich und zu erschütternd.
    Er grübelte noch darüber nach, was er sagen sollte, als sein Blick auf einen Bilderrahmen fiel, der halb unter den Lehnstuhl seines Vaters geschoben war. Er lag falsch herum, aber er wusste, was zum Vorschein käme, wenn er ihn umdrehte: eine sepiafarbene Fotografie seiner Mutter, die in der Bibliothek ihres Stadthauses in Amsterdam aufgenommen worden war. Sie hatte einen weißen Strohhut auf, und ihr ebenholzfarbenes Haar fiel in weichen Wellen auf die Schultern herab. Eine Hand steckte in einem Handschuh. Sie hatte sie zu einer geheimnisvollen Geste erhoben, dass es fast so aussah, als würde sie eine unsichtbare Zigarette in der Luft hin- und herschwenken. Die Lippen waren ganz leicht geöffnet. Sie sagte gerade etwas, und Max hatte sich schon oft gefragt, was es wohl gewesen war. Aus irgendeinem Grund war er davon überzeugt, dass er selbst unmittelbar außerhalb des Rahmens gestanden hatte, ein vierjähriges Kind, das ernst zu ihr hochblickte. Er hatte das Gefühl, dass sie die Hand gehoben hatte, um ihm zu bedeuten, nicht ins Bild zu laufen. Falls das zutraf, war es sehr wahrscheinlich, dass sie für immer auf Papier gebannt war, als sie gerade seinen Namen aussprach.
    Er hörte es knirschen und klirren, als er den Bilderrahmen aufhob und umdrehte. Das Glas war genau in der Mitte zersprungen. Er zog die funkelnden kleinen Glaszähne einzeln heraus und legte sie neben sich, wobei er darauf achtete, dass die glänzende Abbildung darunter nicht beschädigt wurde. Nachdem er einen großen Glaskeil aus einer Ecke gezogen hatte, löste sich das Bild aus dem Rahmen. Er streckte die Hand aus, um es wieder festzudrücken … zögerte dann jedoch und runzelte die Stirn, weil er einen Moment lang den Eindruck hatte, doppelt zu sehen. Unter der ersten Aufnahme befand sich offenbar noch eine zweite. Er

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