Black Box
fette Mann auf Zehenspitzen hindurch – wie ein Nilpferd, das Ballett tanzte – und war fort, bevor Finney auch nur den Mund aufbekam, um zu schreien.
5
Er schrie trotzdem. Schrie und warf sich mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür – nicht weil er erwartete, sie könnte nachgeben, sondern weil er hoffte, es könnte oben jemand hören, wie sie gegen den Rahmen krachte. Er wollte auch nicht schreien, bis er heiser war, sondern nur so lange, bis er sicher war, dass ihn wirklich niemand hören würde.
Schließlich ließ er es bleiben und sah sich in seinem Unterwassergefängnis um. Er versuchte herauszufinden, woher das Licht kam. Es gab zwei kleine Fenster – lange Glasschlitze hoch oben in der Wand, ein ganzes Stück außer Reichweite, und durch sie fiel ein schwaches unkrautgrünes Licht herein. Sie waren mit rostigen Gittern gesichert.
Eine ganze Weile betrachtete Finney eines der Fenster. Dann rannte er los, auf die Wand zu, ohne weiter darüber nachzudenken, wie erschöpft er war, setzte einen Fuß auf die Wand und sprang. Für einen Augenblick konnte er nach dem Gitter greifen, aber die Stäbe waren zu nahe beieinander, er bekam die Finger nicht dazwischen. Er landete auf den Absätzen, fiel hintenüber und begann wieder heftig zu zittern. Immerhin. Es war ihm gelungen, einen kurzen Blick durch die verschmutzte Scheibe zu werfen. Das Fenster war mit Doppelverglasung versehen und befand sich auf Bodenhöhe, fast vollständig hinter einem wild wuchernden Gebüsch verborgen. Wenn es ihm gelänge, die Scheibe einzuschlagen, hörte ihn vielleicht jemand rufen.
Das haben sie alle gedacht, ging es ihm durch den Kopf. Und man sieht ja, was es ihnen gebracht hat.
Er schritt noch einmal den Raum ab und blieb schließlich wieder vor dem Telefon stehen, um es genauer zu betrachten. Sein Blick folgte dem dünnen schwarzen Kabel, das mit Krampen an der Wand befestigt war. Es zog sich ungefähr einen halben Meter an der Wand entlang und endete in einem Bündel von Kupferdrähten. Finney wurde sich bewusst, dass er wieder den Hörer in der Hand hielt – er hatte ihn einfach abgenommen, ohne es zu bemerken, und hielt ihn sich sogar ans Ohr … ein unbewusster Akt von solcher Hoffnungslosigkeit und Sehnsucht, dass er vor sich selbst zurückschreckte. Warum installierte man ein Telefon in seinem Keller? Eine Toilette gab es auch. Vielleicht, wahrscheinlich – ein entsetzlicher Gedanke – hatte hier einmal jemand gewohnt.
Dann lag er auf der Matratze und starrte durch die jadegrüne Düsternis zur Decke hinauf. Zum ersten Mal wurde ihm bewusst, dass er nicht geweint hatte und ihm auch jetzt nicht danach war. Er war darauf bedacht, sich auszuruhen, um genug Kraft für weitere Untersuchungen und Überlegungen zu haben. Bevor Al zurückkam, würde er noch einmal den Raum abschreiten, um nach etwas Brauchbarem zu suchen. Vielleicht konnte er ihm wehtun, wenn er etwas fand, das als Waffe geeignet war. Eine Glasscherbe, eine rostige Feder. Hatte diese Matratze Federn? Sobald er wieder in der Lage war, sich zu bewegen, würde er versuchen, das herauszufinden.
Inzwischen würden seine Eltern wissen, dass mit ihm etwas passiert sein musste. Bestimmt waren sie außer sich. Wenn er jedoch versuchte, sich vorzustellen, wie nach ihm gefahndet wurde, hatte er weder seine weinende Mutter vor Augen, wie sie die Fragen des Ermittlungsbeamten beantwortete, noch seinen Vater, der sich abwandte, während ein Polizist vor Poole’s Hardware die leere Flasche Traubenlimonade in einen Plastikbeutel steckte.
Stattdessen stellte er sich vor, wie Susannah auf den Pedalen ihres Zehngangfahrrads stand und den Mittelstreifen der breiten Anwohnerstraßen entlangglitt. Sie hatte den Kragen ihrer Jeansjacke hochgeschlagen und biss die Zähne zusammen, weil ihr der eisige Wind ins Gesicht blies. Susannah war drei Jahre älter als Finney, aber sie waren beide am gleichen Tag geboren, dem 21. Juni, eine Tatsache, die für sie eine mystische Bedeutung hatte. Wie Susannah überhaupt eine Vorliebe für okkulte Dinge hatte: Sie besaß Tarotkarten und las Bücher über den Zusammenhang zwischen Stonehenge und den Außerirdischen. Als sie noch jünger gewesen waren, hatte Susannah ein Spielzeugstethoskop gehabt, das sie ihm an den Kopf gedrückt hatte, um damit seine Gedanken zu lesen. Einmal hatte er aufs Geratewohl fünf Karten aus einem Kartenspiel gezogen, und sie hatte sie alle erraten, während sie ihm das Stethoskop gegen die Stirn drückte –
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