Black Box
Pick-Fünf, Kreuz-Sechs, die Karo-Zehn, den Karo-Buben und das Herz-Ass. Allerdings war es ihr nicht gelungen, dieses Kunststück zu wiederholen.
Finney sah seine große Schwester Straßen absuchen, auf denen in seiner Vorstellung keine Autos oder Fußgänger zu sehen waren. Der Wind fuhr in die Bäume und warf die nackten Äste hin und her. Es sah aus, als würden sie vergeblich den tief liegenden Himmel harken. Manchmal hatte Susannah die Augen halb geschlossen, um sich besser auf ein fernes Geräusch zu konzentrieren, dem sie folgte. Sie lauschte auf Finney, seinen tonlosen Schrei, in der Hoffnung, ein telepathischer Hinweis würde sie zu ihm führen.
Völlig automatisch bog sie erst nach links, dann nach rechts ab und fand sich auf einmal in einer Straße – einer Sackgasse – wieder, wo sie noch nie gewesen war. Auf beiden Seiten standen allem Anschein nach unbewohnte Bungalows mit ungepflegten Vorgärten, in den Einfahrten lag Kinderspielzeug herum. Als sie diese Straße erblickte, schlug ihr Herz plötzlich schneller. Sie spürte ganz stark, dass Finneys Entführer hier irgendwo wohnen musste. Sie fuhr langsamer, schaute sich nach links und rechts um und musterte beklommen jedes Haus, an dem sie vorbeikam. Die ganze Straße wirkte ungewöhnlich still, so als wären sämtliche Anwohner schon vor Wochen mit Sack und Pack evakuiert worden, nachdem sie alle Türen verriegelt und alle Lichter gelöscht hatten. Dieses nicht, dachte sie. Und das auch nicht. Und weiter so bis zum Ende der Sackgasse und dem letzten Haus.
Sie setzte einen Fuß auf die Straße, stieg aber nicht ab. Bisher hatte sie noch keine Hoffnungslosigkeit verspürt, aber wie sie jetzt so dastand, auf den Lippen kaute und sich umsah, kam ihr allmählich der Gedanke, dass sie ihren Bruder nicht finden würde, dass niemand ihn finden würde. Diese Straße war schrecklich, und der Wind war kalt. Fast glaubte sie, diese Kälte in sich spüren zu können, als kühles Kitzeln unterhalb ihres Brustbeins.
Im nächsten Moment hörte sie ein Geräusch, ein blechernes Klirren, das seltsam nachhallte. Sie schaute sich suchend um und blickte zum letzten Telefonmast der Straße hinauf. Ein ganzer Haufen von Ballons hatte sich dort oben in den Drähten verfangen. Der Wind zerrte an ihnen, versuchte sie zu befreien, und sie tanzten und hüpften umher, als wollten sie entkommen, aber die Drähte hielten sie unerbittlich fest. Bei ihrem Anblick fuhr sie erschrocken zurück. Die Ballons waren aus irgendeinem Grund entsetzlich – ein toter Punkt am Himmel. Der Wind zupfte an den Drähten und ließ sie vibrieren.
Als das Telefon klingelte, öffnete Finney die Augen. Die lebhafte kleine Geschichte, die er sich über Susannah ausgedacht hatte, löste sich in Luft auf. Es war nur eine Geschichte gewesen, eine Vision – eine Gespenstergeschichte, und er war das Gespenst oder würde jedenfalls bald eines sein. Er hob den Kopf von der Matratze und stellte überrascht fest, das es fast dunkel geworden war. Dann fiel sein Blick auf das Telefon. Der Stahlklöppel hatte so fest auf die rostigen Klingeln geschlagen, dass er den Eindruck hatte, die Luft würde noch immer schwach vibrieren.
Er stemmte sich hoch. Er wusste, dass das Telefon eigentlich gar nicht klingeln konnte – dass ihm sein schlafendes Bewusstsein bestimmt einen Streich gespielt hatte –, und doch erwartete er irgendwie, dass es noch einmal klingeln würde. Es war dumm gewesen, einfach so dazuliegen und den Tag zu verträumen. Er brauchte dringend etwas, was ihm weiterhalf – einen krummen Nagel, einen Stein, den er werfen konnte. Bald würde es ganz dunkel sein, und wenn er nichts mehr sah, konnte er den Raum nicht mehr absuchen. Ganz benommen und orientierungslos stand er auf. Er fror, es war kalt in diesem Keller. Er schlurfte zum Telefon hinüber und nahm den Hörer ans Ohr.
»Hallo?«, flüsterte er.
Draußen vor dem Fenster sang der Wind. Er lauschte auf die tote Verbindung und gerade, als er auflegen wollte, glaubte er am anderen Ende ein Klicken zu hören.
»Hallo?«, flüsterte er.
6
Während sich die Dunkelheit langsam auf ihn herabsenkte, zog er die Knie an die Brust und rollte sich auf der Matratze zusammen. Schlafen konnte er nicht. Er blinzelte kaum. Er wartete darauf, dass die Tür sich öffnete, der Dicke hereinkam und sie hinter sich schloss. Dann wären sie in der Finsternis allein miteinander. Aber Al kam nicht. Finney hatte einen leeren Kopf, und er konzentrierte sich mit jeder
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