Black Dagger 10 - Todesfluch
Bilder nur halb gegenständlich und verschwommen waren. Ein Mann spielte darin eine Rolle, ein großer Mann, den sie gleichzeitig als Teil von sich und als extrem fremd empfand. Sein Gesicht hatte sie nicht erkennen können, doch seinen Geruch kannte sie: dunkle Gewürze, ganz nah, in ihrer Nase, um sie herum, auf ihrem ganzen Körper —
Wieder flammte dieser massive Kopfschmerz auf, und sie ließ das, an was sie gerade dachte, fallen wie einen heißen Schürhaken, den sie am falschen Ende angefasst
hatte. Glücklicherweise ließ der Schmerz hinter den Augen schnell nach.
Beim Klang eines Motorengeräuschs hob sie den Kopf. Durch das Fenster neben dem Bett sah sie einen Minivan rückwärts in die Einfahrt setzen. Nebenan war jemand neu eingezogen, und sie hoffte inständig, dass es keine Familie war. Die Mauern zwischen den Wohnungen waren zwar nicht so dünn wie in normalen Mietshäusern, aber sie waren bei weitem nicht tresordick. Und auf schreiende Kinder konnte sie gut verzichten.
Beim Aufsetzen fühlte sie sich miserabel, völlig fertig. In ihrer Brust spürte sie ein schmerzhaftes Ziehen, und sie glaubte nicht, dass es etwas mit den Muskeln zu tun hatte. Sie drehte sich hin und her, sie wurde das Gefühl nicht los, dass sie sich schon einmal so gefühlt hatte, konnte aber nicht einordnen, wann oder wo.
Duschen war eine Tortur. Zum Teufel, allein schon ins Badezimmer zu kommen war Schwerstarbeit. Die gute Nachricht war, dass das Einseifen und Abwaschen sie etwas belebte, und ihr Magen war dem Gedanken an Nahrung nicht länger völlig abgeneigt. Sie ließ die Haare von selbst trocknen, ging nach unten und setzte Kaffee auf. Der Plan lautete, den ersten Gang im Kopf einzulegen und wenigstens einige Rückrufe zu erledigen. Komme was da wolle, morgen würde sie wieder zur Arbeit gehen, deshalb wollte sie klar Schiff machen, so gut es ging, bevor sie ihren Dienst in der Klinik antrat.
Mit einem Kaffeebecher in der Hand setzte sie sich im Wohnzimmer auf die Couch. Hoffentlich würde Käpt’n Koffein sie wieder zum Menschen machen. Beim Blick auf die Seidenpolster zuckte sie zusammen. Das waren genau die, die ihre Mutter so oft glattgestrichen hatte, dass sie als Wasserwaage hätten dienen können, ob der Haussegen gerade
schief hing oder nicht. Jane überlegte, wann sie zuletzt darauf gesessen hatte. Wahrscheinlich überhaupt noch nie. Es war nicht ausgeschlossen, dass das letzte Gesäß, das sich hier niedergelassen hatte, das eines ihrer Elternteile gewesen war.
Nein, vermutlich eher der eines Gastes. Ihre Eltern hatten immer nur auf den Sesseln in der Bibliothek gesessen, ihr Vater mit der Pfeife und seiner Zeitung auf dem rechten, ihre Mutter mit einer Stickarbeit auf dem linken Sessel. Die beiden hätten gut in Madame Tussauds Wachsfigurenkabinett gepasst, als Teil einer Ausstellung über wohlhabende Eheleute, die nie miteinander sprachen.
Jane dachte an die Gesellschaften, die ihre Eltern gegeben hatten, an all diese Leute, die sich in ihrem großen Haus drängten, von uniformierten Kellnern mit Crêpes und gefüllten Pasteten versorgt. Jedes Mal war es dieselbe Runde mit denselben Gesprächen und denselben schwarzen Kleidern und Anzügen gewesen. Der einzige Unterschied hatte in der Jahreszeit gelegen, und die einzige Unterbrechung hatte Hannahs Tod verursacht. Nach ihrer Beerdigung hatten auf Anweisung ihres Vaters sechs Monate lang keine Soireen stattgefunden, doch dann war man wieder zur Tagesordnung übergegangen. Die Partys wurden wieder abgehalten, und wenn auch ihre Mutter so zerbrechlich wirkte, als könnte sie jeden Moment in ihre Einzelteile zerfallen, legte sie doch ihr Make-up auf und zog ihr kleines Schwarzes an und stand an der Eingangstür, mit aufgesetztem Lächeln und adretter geschlungener Perlenkette.
Mein Gott, Hannah hatte diese Veranstaltungen geliebt.
Jane runzelte die Stirn und legte sich eine Hand aufs Herz. Jetzt wusste sie wieder, woher sie diese Art von Schmerz in der Brust kannte. Hannah nicht mehr um sich zu haben, hatte denselben merkwürdig quälenden Druck geschaffen.
Seltsam, aufzuwachen und aus heiterem Himmel Trauer zu empfinden. Sie hatte doch niemanden verloren.
Beim ersten Schluck Kaffee wünschte sie sich, sie hätte heiße Schokolade gemacht –
Das undeutliche Bild eines Mannes mit einem Becher in der Hand flog sie an. In der Tasse war heißer Kakao, und er hatte ihn für sie gemacht, weil er … weil er sie verließ. O mein Gott, er ging fort —
Im
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