Black Rabbit Summer
und nickte zurück.
»Wer ist das denn?«, fragte ich Raymond, als der Typ außer |48| hörweite war.
»Keine Ahnung«, antwortete er. »Ich hab ihn ein paar Mal unten am Fluss gesehen. Er hat da einen Wohnwagen stehen.«
»Einen Wohnwagen?«
»Ja.«
»Seit wann?«
»Seit ein paar Wochen.«
»Was ist er – ein Zigeuner oder so?«
Raymond zuckte die Schultern. »Weiß nicht.«
Wir überquerten die St Leonard’s Road und liefen einen kleinen Trampelpfad entlang, der zwischen dem ehemaligen Fabrikparkplatz und einer Reihe von Autowerkstätten verläuft. Das heißt, zumindest waren da früher mal Autowerkstätten gewesen. Inzwischen hatten sie alle dichtgemacht – zum Teil waren sie zugenagelt, zum Teil auch bloß einfach verlassen. Dahinter, rechts von uns, sah ich die Dächer der alten Fabrikgebäude, die sich dunkel vor dem leuchtenden Abendhimmel abzeichneten.
Die Fabrik steht schon so lange leer, wie ich denken kann. Es ist ein riesiges Gelände, ein ausladender Komplex trister grauer Gebäude, Fabrikhallen, Büros, Tanks und Kessel, Schornsteine und Türme, alles total baufällig. Es gibt sogar einen eigenen Wasserspeicher – einen kleinen betonierten See, umgeben von dicken schwarzen Rohren und randvoll mit einer stehenden grünen Brühe. Weiß der Himmel, wozu der mal da war. Ich glaube, die Fabrik hat Maschinen für Lokomotiven und Flugzeuge oder so gebaut... aber vielleicht irre ich mich auch.
Wie auch immer, jedenfalls stellte ich fest, dass wir beide, Raymond und ich, mit dem gleichen abwesenden Blick auf |49| die alte Fabrik schauten, als wir den Trampelpfad entlanggingen.
»Du weißt, dass sie verkauft ist, oder?«, fragte ich Raymond.
»Ja... sie reißen sie ab, um Häuser zu bauen. Ist alles schon eingezäunt.«
Ich nickte. Ich sah den nagelneuen hohen Metallzaun, mit dem sie das schäbige alte Maschendrahtzeug von früher ersetzt hatten. Die Maschendrahtumzäunung war leicht zu überwinden gewesen. Selbst wenn du nicht wusstest, wo sich die Löcher befanden – was wir natürlich wussten –, du brauchtest bloß nach einem losen Stück zu suchen, es anzuheben und drunter durchzukriechen. Wir hatten uns oft stundenlang in der alten Fabrik herumgetrieben.
»Weißt du noch, wie dich dein Dad mal da drinnen mit Nic erwischt hat?«, fragte Raymond.
»Er hat uns nicht da
drinnen
erwischt«, korrigierte ich ihn. »Wir sind gerade rausgekommen.«
»Na gut«, sagte Raymond grinsend, »aber dein Dad hat trotzdem getobt, stimmt’s?«
Ehrlich gesagt hatte er mehr als getobt, er war total ausgerastet. So wütend hatte ich ihn noch nie erlebt. Damals waren Nic und ich gerade mal dreizehn, und das Erste, was Dad mir entgegenschrie, war: »
VERFLUCHT
, WAS HABT IHR BEIDEN DA DRINNEN
GEMACHT
?« Was irgendwie peinlich war. Und selbst als ich ihn überzeugen konnte, dass wir nichts
Schlimmes
getan hatten, beruhigte er sich nicht. Stundenlang hörte er nicht mehr auf, wie gefährlich das gewesen sei, wie dumm, wie gedankenlos, wie unverantwortlich ...
Später fand ich heraus, dass ein paar Wochen zuvor ein zwölfjähriger Junge in einem verlassenen Lagerhaus tot aufgefunden |50| worden war. Der arme Kerl war einfach allein in das Lagerhaus marschiert und dort durch ein paar lose Bodenbretter gekracht oder so. Seine Eltern hatten ihn als vermisst gemeldet und Dad war im Ermittlungsteam gewesen. Als die Leiche des Jungen schließlich gefunden wurde, hatte
er
den Eltern die Nachricht überbringen müssen.
»Alles okay?«, fragte Raymond.
»Ja, ich hab nur dran gedacht...«
»Woran?«
»An nichts... schon gut.«
Inzwischen hatten wir das Ende des Pfads erreicht und vor uns lag der schmale Sandweg, den wir den Drecksweg nannten. Er heißt natürlich nicht wirklich so – ich glaube, offiziell hat er überhaupt keinen Namen, es ist schließlich ein Weg, der auf keiner Karte verzeichnet ist. Die meisten Leute wissen überhaupt nicht, dass es ihn gibt. Die Jugendlichen von hier kennen ihn aber alle, schon allein deshalb, weil er eine Abkürzung zum Parkgelände ist. An Erwachsenen trifft man dort aber allenfalls Penner, Leute, die ihren Hund ausführen, und ab und zu mal einen Spinner.
Als wir in den Weg einbogen, wurde die Luft plötzlich kühler, weil das Sonnenlicht von der steilen bewaldeten Böschung abgeblockt wurde, die sich rechts von uns zur Fabrik hin erhob. Der Boden unter den Hangbäumen war mit einem dichten Geflecht aus Brombeergestrüpp und Unkraut bedeckt.
»Ich hoffe, die Hütte ist
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