Black Swan - Silberner Fluch
deines Lebens in diesem Augenblick gefangen sein! Aber die Stimme ging unter im Kreischen des Rettungsspreizers, der sich durch das Metall fraß. Der Feuerwehrmann zog mich aus dem Wrack …
Und wieder saß ich auf dem Rücksitz, sah dem Schnee zu, wie er die Scheiben vernebelte, wünschte meiner Mutter den Tod, drehte meinen Walkman auf, sah den roten Ford Expedition an uns vorüberziehen … Wieder und wieder erlebte ich mit, wie all das passierte, und ich war hilflos und konnte nichts daran ändern, egal, wie laut ich schrie. Das Feuer knisterte fröhlich. Es hatte die perfekte Nahrung gefunden, mit der es bis in die Ewigkeit brennen konnte: meine Schuldgefühle.
Beim zehnten – oder war es beim hundertsten? – Mal hörte ich auf zu schreien und hörte nur noch zu, eingelullt von den Kadenzen in der Stimme meiner Mutter, als sie log und mir versicherte, dass alles gut werden würde. »Vertraue stets deinem eigenen Instinkt«, sagte sie mir.
Genau, und wir sehen ja, wohin mich das gebracht hat!
»Du bist ein seltener Vogel … einzigartig … denke immer selbstständig …« Aber stets ging das, was sie danach sagte, im Heulen der Sirenen unter. Das fand ich bei all dem Entsetzen, das ich empfand, schließlich irgendwie störend. Was sagte sie da? Sollte ich dazu verdammt sein, dieses Erlebnis für den Rest der Ewigkeit immer wieder zu durchleben, ohne die letzten Worte meiner Mutter zu hören?
Ich gab mir noch mehr Mühe, sie zu verstehen, aber es nützte nichts. Die Sirenen waren zu laut. Vielleicht hatte sie auch gar nichts mehr gesagt.
Aber dann begriff ich, dass mein gegenwärtiges Ich in
den letzten Tagen ein oder zwei neue Fähigkeiten erlernt hatte. Ich konnte mich inzwischen mit dem mir eigenen Kompass genau orientieren und sah Visionen auf Wasseroberflächen … und ich wusste, wie ich Gedanken hören konnte. Konnte ich in einer Erinnerung vielleicht auch die Gedanken meiner Mutter empfangen?
Und wenn mir das gelang, würde mir gefallen, was ich dabei erfuhr?
Dann rief ich mir ins Gedächtnis, was Oberon gesagt hatte: Das Feuer enthüllt die Wahrheit, aber nicht alle Wahrheiten. Wenn ich hier nicht noch etwas Neues erfuhr, dann würde mir lediglich die Wahrheit bleiben, dass ich meine Mutter umgebracht hatte, indem ich ihr den Tod wünschte. Alles andere war besser als das.
Das nächste Mal versuchte ich mich also darauf zu konzentrieren, die Gedanken meiner Mutter zu lesen … und erreichte nichts. Beim zweiten Mal gelang es mir noch immer nicht, aber beim dritten Mal, nachdem sie sagte: »Der Nebel wird richtig dick, ich glaube, ich fahre an der nächsten Ausfahrt raus«, hörte ich klar und deutlich zwei Worte in ihrem Kopf. John Dee.
John Dee? Mein Verstand kam darüber ins Stottern. Was ist mit John Dee?
Die Augen meiner Mutter blitzten im Rückspiegel auf und senkten sich in meine. Das war das letzte Mal nicht passiert – und die hundert Male vorher auch nicht.
Garet? Bist du das?
Ich hörte das Feuer in meinem Kopf dröhnen, als versuchte es, ihre Stimme zu übertönen. Ich musste dagegen anschreien. Ja! Mom, ich bin es – ich, zehn Jahre später -, es wird ein Unfall passieren …
Im Augenwinkel sah ich den roten Ford Expedition überholen. Allerdings konnte ich nicht wirklich hinsehen. Ich konnte den Blick nicht von den Augen meiner Mutter abwenden, die sich nun mit Tränen füllten.
Aber du wirst überleben?, fragte sie. Dir wird nichts passieren?
Ich werde überleben, aber du nicht. Mom, du musst anhalten …
Aber der Ford rammte uns bereits, und wir überschlugen uns. Aber dennoch, es war mir gelungen, etwas zu ändern. Wenn ich es das nächste Mal noch entschlossener versuchte …
Garet, kannst du mich hören? Es war die Stimme meiner Mutter in meinem Kopf, nicht in meiner Erinnerung. »Ist alles in Ordnung?«
»Ich bin hier, Mom«, antwortete mein sechzehnjähriges Ich. »Es geht mir gut, aber ich kann mich nicht bewegen. Ist dir etwas passiert?«
Ja, ist ihr! Ist ihr! Laut schrie ich mich selbst an, aber es war meine Mutter, die nun antwortete, und in dem Augenblick des Schweigens, der dem voranging, hörte ich sie ganz deutlich in meinem Kopf sagen: Es ist in Ordnung, meine Süße, du kannst die Vergangenheit nicht ändern.
»Marguerite«, sagte sie nun laut. »Vertraue stets deinem eigenen Instinkt.« Ich liebe dich so sehr, meine Süße, und ich bin so stolz auf dich, dachte sie. »Du bist ein seltener Vogel … einzigartig … denke immer selbstständig
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