Black Swan - Silberner Fluch
bestimmt Versailles!«, rief ich. »Und es gibt ein Fest.« Eine junge Frau in einem gelben Kleid eilte an mir vorüber, und ein Mann in blauer Seide lief ihr nach. Sie trugen beide Masken. »Ein Maskenball! Du hast doch gesagt, dass Madame Dufay am Hofe Ludwigs XVI. lebte. Heißt das, ich könnte vielleicht sogar Marie Antoinette sehen?«
»Das ist keine Vergnügungstour«, erklärte Oberon streng. »Kannst du Madame Dufay bitten, dir Dee zu zeigen?«
»Könnten Sie mir John Dee zeigen, bitte?«, fragte ich und fügte dann in meinem Schulfranzösisch hinzu: » Je voudrais voir John Dee, s’il vous plaît .«
Ich spürte, wie der Körper, in dem ich mich befand, ins Stolpern kam. Na, kein Wunder, dachte ich, als ich die zierlichen, hochhackigen Schühchen in hellem Rosa betrachtete, die Madame Dufay trug, wer kann schon in so etwas laufen? Allerdings sehen sie wirklich wunderschön aus.
Madame Dufay streckte ihren Fuß nach vorn und drehte ihn ein wenig, so dass ich die Federn an der Ferse bewundern konnte. Sie wusste, dass ich dort war! Sie konnte mich hören.
»John Dee, s’il vous plaît «, wiederholte ich.
Sie hob den Kopf und ging auf den Springbrunnen am Ende des Weges zu. Ein Grüppchen von Festgästen umringte dort einen Mann in beigefarbenem Gehrock und schwarzem Mantel. Er trug eine Maske mit einem Eulengesicht und schien eine Art Zaubertrick vorzuführen. Dramatisch ließ er die Hand über einen Kristallkelch gleiten, und ein Rosenstrauß erschien. Die Menge applaudierte, und er vollführte eine tiefe Verbeugung, bei der eine kahle Stelle oben auf seinem Kopf sichtbar wurde. Als er sich wieder aufrichtete, sah ich durch die Löcher in der Eulenmaske ein paar bernsteinfarbene Augen aufblitzen.
»John Dee!«, stieß ich hervor. »Er ist auf dem Ball!«
»Sag ihr, dass du John Dee jetzt sehen willst! Im Jahr 2008.«
»Wird sie das verstehen?«, fragte ich, aber sie wandte sich bereits von Dee ab und ging zu einem offenen Pavillon hinüber, in dem Paare ein Menuett tanzten. Dort hielt sie auf einen Mann mit einem pfauenblauen Mantel zu, über dessen weißem Spitzenkragen eine schwarze, gefiederte Maske den oberen Teil seines Gesichts verdeckte. Er verbeugte sich vor ihr, und ich fühlte, dass ich – oder vielmehr Madame Dufay – mit einem Knicks darauf antwortete. Dann legte ich meine Hand in seine und mischte mich unter die Tänzer. Die bunten Lampions verwischten zu einem Kreis aller Farben des Regenbogens, doch die grauen Augen hinter der Maske blieben der Mittelpunkt dieser wirbelnden Welt. Mich beschlich das Gefühl, dass ich diese Augen kannte.
»Das muss der Mann sein, in den sie sich verliebt hatte«, sagte ich. »Der, dem sie ihr Porträt geschenkt hat.«
Oberon seufzte. »Kannst du sie nicht ein bisschen antreiben?«
»Ich glaube nicht«, gab ich zurück. »Sie will mir diese Dinge zeigen. Seit über zweihundert Jahren war sie in diesem Bild eingesperrt. Wer bin ich denn, dass ich jetzt Druck auf sie ausübe?«
Die Wahrheit war, dass ich sie nicht drängen wollte. Mein Körper bewegte sich im Takt der Musik, und die grauen Augen hielten mich so fest wie eine Umarmung. Am liebsten hätte ich ewig tanzen mögen, aber plötzlich wurde ich aus diesem Augenblick herausgerissen. Jemand war auf der Tanzfläche mit Madame Dufay zusammengestoßen. Als sie sich umwandte, erhaschte ich einen kurzen Blick auf einen dunkelhäutigen Mann mit langem, grünem Seidenkaftan, der einen weißen Turban und eine
dünne weiße Maske vor den Augen trug. »Hey«, hub ich an, aber das Gefühl der Erschütterung setzte sich im New York der Gegenwart fort. Die Brosche rutschte von meinem Auge, und das Bild zerbrach in eine Million Bruchstücke aus Blumen und Springbrunnen und Masken.
Schnell schob ich die Brosche wieder auf den richtigen Platz, aber die Szene hatte sich verändert. Ich – oder vielmehr Madame Dufay – befand sich in einem kalten, nackten Raum vor einer Fensterfront, die den Blick auf eine Häuserzeile mit Ziegeldächern freigab. Rechts von mir stand ein junger Mann mit zerrauftem Blondhaar und einem farbbekleckerten blauen Gehrock hinter einer Staffelei und tupfte mit dem Pinsel auf die Leinwand.
»Sie lässt ihr Porträt malen«, berichtete ich Oberon.
»Wie schön«, gab er trocken zurück. »Wahrscheinlich nimmt sie uns nachher noch zu ihrem Friseur mit.«
»Nein, das ist wichtig. Sie sagt dem Maler, dass sie sich wünscht, durch die Augen, die er malt, sehen zu können, damit sie
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