Black Swan - Silberner Fluch
schön eingepackt und oft noch mit einem Gedicht des Dalai Lama versehen waren).
»Die Straße hatte heute Morgen einen eigenwilligen Geruch«, sagte er. »Damit bekommt man ihn weg. Hier …« Er legte ein paar kleine Räucherkerzen in die Tüte. »Wenn es nochmal so einen Nebel gibt, dann zünden Sie ein paar von denen an.«
»Das mache ich, danke schön. Ich hoffe allerdings, dass wir nicht noch einmal so ein Wetter bekommen. Ich hatte furchtbare Migräne.«
Er schüttelte den Kopf. »Ich fürchte, wir werden so etwas noch viel öfter erleben – und schlimmer.« Damit legte er drei Gebetskärtchen zu dem Schal.
Ich versuchte, die Worte des Tibeters abzuschütteln, als ich weiterging, aber meine Stimmung war nun doch ein wenig getrübt. Der Duft, der aus der Bäckerei drang, belebte mich wieder etwas, und ich fühlte mich besser, als
ich das Zimmer meines Vaters betrat und sah, dass er aufgerichtet im Bett saß. Sein Gesicht hatte wieder eine gesündere Farbe, und seine Augen waren wach.
»Margaret«, rief er, als er mich sah. »Du wirst nicht glauben, wer mich gestern Abend besucht hat!«
»Gestern Abend? Ich war doch bis zum Ende der Besuchszeit hier.«
Er machte eine ablehnende Handbewegung, als ich ihm ein Stück Apfelstrudel hinhielt, und hielt meine Hand fest. »Santé Leone!«
»Santé Leone?«, wiederholte ich und setzte mich auf die Bettkante.
»Du erinnerst dich doch sicher noch an ihn? Er stammte aus Haiti und hat diese riesigen Leinwände mit tropischen Farben gestaltet …«
»Ja, ich erinnere mich an ihn, Dad. Es ist nur …«
»Es war so großartig, ihn wiederzusehen! Und das Beste ist …« Er zog mich an sich und flüsterte: »Er malt wieder! Seine Kleider waren mit frischer Farbe in allen Schattierungen bespritzt! Er sagte, er hätte ein Dutzend neuer Gemälde für mich. Weißt du, was die Leute für einen neuen Santé Leone zahlen würden?«
»Millionen, Dad. Bestimmt Millionen.«
»Darauf kannst du dich verlassen! Siehst du, ich habe immer gesagt, dass sich etwas ergeben würde. Unsere finanziellen Probleme sind gelöst.« Er ließ meine Hand los und sank wieder in die Kissen.
»Gut, Dad«, sagte ich und strich mit der Hand über seine Stirn. Sie fühlte sich warm an, aber nicht fiebrig. »Das ist wunderbar. Ruh dich einen Augenblick aus. Ich werde sehen, ob ich deinen Arzt finden kann.«
Er schloss die Augen und schlief sofort leise schnarchend ein.
»Er hat seit vier Uhr morgens auf Sie gewartet, um Ihnen davon zu erzählen, dass ihn Sankt Leon besucht hat.« Ein Mann lehnte in der Tür. Ohne seinen weißen Kittel brauchte ich einen Augenblick, um Obie Smith zu erkennen. Er trug stattdessen einen schwarzen, langen Ledermantel über schwarzen Jeans und einem orangefarbenen Seidenhemd. Seine langen Dreadlocks, die er gestern noch mit einem Stirnband gebändigt hatte, hingen ihm nun offen über den Rücken.
»Sankt Leon«, wiederholte ich. »Ich habe lange nicht mehr gehört, dass ihn jemand so genannt hat.« Santé Leone – Sankt Leon – war Anfang der Achtzigerjahre von Haiti nach New York gekommen, nachdem er ein Stipendium am Pratt Institute gewonnen hatte. Schon bald jedoch kehrte er seinen Studien den Rücken und hinterließ stattdessen überall in Manhattan riesige Wandmalereien, die er stets mit seinem Zeichen versah – einem stilisierten Löwen mit Heiligenschein, der eine Pfote erhob. Sankt Leon, der heilige Löwe. Mein Vater spürte ihn schließlich in dem ausgebrannten Wohnblock auf der Lower East Side auf, in dem er lebte – oder eher kampierte – und kaufte sechs seiner Bilder. Er förderte die Karriere des jungen Haitianers, verköstigte ihn in unserem Haus, führte ihn in die Kunstszene ein und organisierte seine erste Ausstellung. Doch am Abend, bevor seine Arbeiten bei der Whitney Biennial vorgestellt werden sollten, starb Santé an einer Überdosis Heroin.
»Mein Vater glaubte stets, er hätte etwas tun können, um ihn zu retten«, sagte ich, stand auf und ging zu Obie
Smith hinüber. »Ich hoffe, dass er jetzt an ihn denkt, heißt nicht, dass diese Schuldgefühle ihn wieder überwältigen.«
Obie Smith schüttelte den Kopf. »Er sagte, Santé sei gekommen, um ihm zu sagen, dass er ihm nichts vorwerfe.«
Schnell drehte ich den Kopf beiseite, um die Tränen zu verbergen, die mir in die Augen schossen. »Hier«, ich hielt ihm die orangefarbene Tüte hin. Sie passte genau zu seinem Hemd. »Sie waren so freundlich, ich wollte mich …«
»Sie müssen
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