Black Swan - Silberner Fluch
einjagen.
Reflexartig bedeckte ich mein Gesicht mit der rechten Hand, aber ich konnte durch die Finger direkt zu den Lichtern der Fifth Avenue hinunterblicken. Ariel und ich – Oberon hatten wir zurückgelassen – bewegten uns nun schnell nach Norden, tanzten auf dem Rücken des Winds. In sein Lied waren auch andere Stimmen hineingeflochten, wie ich nun feststellte – das Murmeln von Paaren, die mit Taxis nach Hause fuhren, Abschiedsworte von Betrunkenen, die kurz vor der Sperrstunde aus den Bars kamen, die Seufzer der Schlafenden in weit oben gelegenen Wohnungen. Wir kamen an den Türmen der St. Patrick’s Kathedrale und am grünen Mansardendach des Plaza Hotels vorüber, und dann erstreckte sich dunkel und grün der Central Park unter uns. Doch irgendetwas kam mir komisch vor. Obwohl die Nacht trocken und klar war, bedeckte dort ein dünner Nebel den Boden.
Sehen wir uns das einmal an , befahl Ariels Stimme.
Das habe ich doch die ganze Zeit getan, dachte ich bei mir, aber dann fühlte ich einen Ruck, und wir sausten pfeilschnell den Baumwipfeln entgegen. Unter mir konnte
ich die Eislaufbahn ausmachen, die zu dieser Stunde verlassen war, und die große Rasenfläche des Parks. Über beiden lag ein nasser, grauer Nebel wie eine Schicht geronnene Milch auf einer Tasse kalten Kaffees. Zuerst dachte ich, auch hier sei niemand mehr unterwegs, doch dann entdeckte ich zwischen den Bäumen schwache, vielfarbige Lichtpunkte.
»Lichtsylphen?«, fragte ich.
»Ja«, antwortete Ariel laut. Ihre Stimme klang noch ernster als zuvor. »Sie bewegen sich allerdings viel langsamer als üblich. Ich will doch einmal nachsehen …«
Wir gingen so schnell in den Sinkflug, dass es in meinen Ohren knackte. Dann flogen wir zwischen den Bäumen umher und wichen den nackten Ästen aus. Welche Farben wollten die Lichtsylphen hier trinken? Es hingen nur noch ein paar mattbraune Blätter an den Ulmen, die die Promenade säumten.
»Sie hätten schon längst einen Unterschlupf suchen sollen«, erklärte Ariel auf meine unausgesprochene Frage hin. »Dieses Grüppchen hier verbringt den Winter normalerweise im Regenwaldhaus des Zoos oder manchmal auch in der Schmetterlingskuppel des Museums für Naturgeschichte …« Ariel verstummte, als wir über einem nackten Ast schwebten. Etwas hing daran, ein Stück Abfall, das der Wind hierhergeweht hatte … aber als wir näher kamen, erkannte ich, dass es sich tatsächlich um eine der Lichtsylphen handelte, aus deren Körper alle Farbe gewichen war. Grau und starr lag sie auf der rauen Rinde. Die Flügel zitterten leicht im Wind und machten dabei ein Geräusch wie zerknülltes Zellophanpapier.
»Was ist mit ihr geschehen?«, fragte ich.
»Ich weiß es nicht … hier liegt noch eine.« Wir flogen von Baum zu Baum und entdeckten dabei immer mehr von den ausgesaugten und verschrumpelten Geschöpfen. Einige waren auf den Boden gefallen, wo sie der Wind nun zusammen mit den leeren Plastiktüten, dem Süßigkeitenpapier und den Zigarettenstummeln durch die Gegend wirbelte. Diese Sylphen lösten sich bereits auf, verwandelten sich in kreideartigen grauen Staub, der von dem allgegenwärtigen grauen Nebel eingesaugt wurde.
»Was hat sie nur getötet?«, fragte ich.
Ariel antwortete mir nicht laut, aber ich hörte ihre Stimme wieder in meinem Kopf: Der Nebel. Sie haben von dem Nebel getrunken und sind daran zugrunde gegangen. Laut sagte sie: »Wir kehren besser gleich zurück und sagen Oberon Bescheid.«
Wieder erhoben wir uns in den Wind. Es war schwerer, da wir uns nun nicht mehr mit dem Luftstrom bewegten, sondern ihm entgegenflogen, und uns blieb keine Kraft, um uns zu unterhalten, weder laut noch in Gedanken. Das Hochgefühl, das ich zu Beginn des Flugs gefühlt hatte, war verschwunden. Als ich nun dem Lied des Windes lauschte, hörte ich nur noch ein leises Klagen, als ob irgendwo jemand weinte.
Der Zug nach Tarascon
Sobald wir wieder auf dem Empire State Building gelandet waren, berichtete Ariel Oberon vom Massaker an den Lichtsylphen.
»Es war der Nebel«, sagte sie.
»Ja, Zwietracht und Verzweiflung haben sich im Morgengrauen in die Stadt geschlichen«, sagte Oberon mit dröhnender Stimme. »Garet und ich sahen ihren Nebel schon von meinem Fenster aus den Hudson hinaufziehen. Und dennoch liegt jetzt kein Dunst mehr über der Bucht oder den Flüssen. Daher ging ich davon aus, dass sie fast sofort eine andere Gestalt angenommen hätten.« Oberon machte eine Handbewegung zu der hell und klar
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