Black Swan - Silberner Fluch
Ladentische. Als wir die Tür erreichten, die nach draußen führte, wandte sich Oberon zu mir um. »Ich glaube, du hast den Schlüssel«, sagte er.
»Oh.« Schuldbewusst zog ich die Haftnotiz mit dem Sesam, öffne dich aus meiner Tasche und klebte sie an die Tür, die sofort aufschwang. »Hier«, sagte ich und reichte ihm den kleinen Zettel. »Tut mir leid, dass ich ihn einfach so eingesteckt habe.«
»Das war völlig in Ordnung«, gab er zurück und hob beschwichtigend die Hände. »Ich bin erleichtert, dass du vorausschauend denkst. Behalte ihn. Du wirst alle Hilfe brauchen, die du bekommen kannst.«
Also steckte ich den Zettel wieder in meine Tasche, gerade rechtzeitig, bevor ihn mir der Wind aus den Händen reißen konnte, als ich die offene Plattform betrat. Es war schon damals, als ich mit Becky hier gewesen war, recht windig gewesen, aber nicht annähernd so heftig wie jetzt. Auch hatte die Aussicht tagsüber nicht ganz so schwindelerregend gewirkt. Die Lichter, die sich unter uns ausbreiteten, waren wie ein zweiter Nachthimmel – eine ganz eigene Galaxie, wenn auch erdgebunden.
»Ich weiß nicht, ob es eine so gute Idee ist, bei einem solchen Wetter hier hinauszugehen«, brüllte ich über den heulenden Sturm.
»Unsinn, der Wind ist perfekt.« Ariel musste nicht einmal schreien, damit ich sie verstand. Im Gegenteil, es war vielmehr so, als ob der Wind ihre Stimme nahm und sie direkt in meine Ohren transportierte. »Da er von Süden kommt, würde ich sagen, wir fangen auf der Nordseite an.«
»Womit?«, rief ich fragend zurück.
»Das wirst du noch früh genug sehen«, antwortete sie.
Wir umrundeten die Plattform, bis wir die Nordseite erreichten. Die Gebäude der Innenstadt erhoben sich wie aus Licht gehauene Klippen unter uns. Ariel trat bis an die Brüstung und legte ihre Hände um das stählerne Geländer. Der Wind zerzauste ihr das Haar am Hinterkopf, legte ihren Nacken bloß und enthüllte eine kleine Tätowierung, die zwei ausgebreitete Flügel zeigte. Oberon stellte sich neben sie, und seine langen Dreadlocks umspielten sein Gesicht wie lebende Schlangen.
»Hörst du es?«, fragte sie, und der brüllende Wind ließ ihre Stimme in meinen Ohren tanzen.
»Was denn?«, fragte ich zurück.
»Mach die Augen zu«, befahl sie und nahm meine Hand. »Und hör genau zu.«
Ich tat wie geheißen und lauschte auf den Wind, der sich sammelte, anschwoll, rauschte … und abflaute. Sammeln, Anschwellen, Rauschen und Abflauen. Langsam kristallisierte sich eine Stimme heraus, die weder eindeutig männlich noch weiblich war, weder jung noch alt, weder laut noch leise. Sie lockte und seufzte, brüllte und flüsterte. Sie sang ein Lied so alt wie die Zeit, das dennoch stets auch etwas Neues mit sich brachte. Die Stimme zupfte an den Härchen auf meinen Armen, pumpte Luft in meine Lungen, bewegte meinen Herzmuskel und pfiff durch meine Adern. Sie blies durch mich hindurch, als sei ich ein Instrument. Dann öffnete ich wieder die Augen und sah die Stadt unter mir. Ganz New York war das Instrument des Windes, die Wolkenkratzer waren die Tasten, die langen Straßenzüge die Pfeifen einer großen Orgel, auf der dieser Sturm spielte. Er blies durch die Stadt, durch jeden Menschen, der sich in ihr befand, und verband jedes einzelne Molekül mit allen anderen, die es umgaben. Starke Emotionen wallten in mir auf – ob Angst oder Freude, das konnte ich nicht sagen – und schienen mich auf den Rücken dieser singenden Macht zu heben. Und tatsächlich zogen sie mich empor, über das geschwungene, stählerne Geländer und dann über die Stadt. Als ich über die Brüstung glitt, hielt ich mich mit meiner Rechten hastig fest, aber Ariel griff schnell nach meiner anderen Hand und schnalzte sanft missbilligend mit der Zunge.
Es hat dich jetzt gepackt, ertönte ihre Stimme in meinem Kopf. Meine Stimme liegt im Wind, und nun ist der Wind
in dir. Keine Angst. Lass dich einfach tragen und höre weiter zu. Solange du das Lied des Windes hörst, wirst du nicht fallen … und falls doch, dann fange ich dich auf.
Aus dem Augenwinkel sah ich zu Ariel hinüber, aber neben mir war nichts als leere Luft. Die Panik, plötzlich allein zu sein, dröhnte so laut in meinen Ohren, dass ich den Wind nicht mehr hörte. Sofort begann ich zu fallen, aber eine Hand zog mich wieder empor.
Es ist keine gute Idee, sichtbar zu fliegen , trillerte Ariels Stimme durch meine Gedanken. Da würden wir den Sternenguckern sonst einen Heidenschreck
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