Black Swan - Silberner Fluch
die Dollars, die ich als Trinkgeld vorgesehen hatte, kommentarlos wieder ein und stieg aus, ohne ihm eine gute Nacht zu wünschen. Dann versuchte ich, die Kraftausdrücke zu ignorieren, die er mir schweigend hinterherschleuderte, und ging die Stufen zu meiner Haustür hinauf.
Ich schloss auf und betete darum, dass alles ruhig sein würde, aber als ich eintrat und den Alarmcode eingab, hörte ich bereits Gitarrenmusik die Treppe hinunterdringen. Jay und Becky waren offensichtlich noch wach. Auf dem Weg nach oben fragte ich mich, wie es nun wohl in Gesellschaft meiner Freunde für mich sein würde. Würde ich ihre Gedanken hören? Würde ich mehr erfahren, als ich je über ihr Innerstes hatte wissen wollen?
Die Wohnungstür meines Vaters stand halboffen, und ich blieb davor stehen. Jay begleitete sich auf der Gitarre
und sang; er spielte den Song, den ich vorhin im Radio gehört hatte. Nun, da er den Titel ohne die Band im Hintergrund selbst sang und nicht Fiona, klang er noch trauriger als sonst.
I might as well attempt to fly the sky
to be a fish who dives ten thousand feet,
as try to win your love. Why lie? …
there’s no recovery from love’s defeat.
Die Tränen stiegen mir in die Augen, während ich lauschte, aber gleichzeitig nahm mich der Song auch gefangen. Er übte dieselbe klagende Anziehungskraft auf mich aus wie das Lied des Windes. So leise wie möglich stieß ich die Tür etwas weiter auf und schlich in Romans Wohnzimmer. Jay saß allein auf dem Sofa, in T-Shirt und Jeans, das lange, lockige Haar von der Anstrengung des Konzerts noch leicht feucht an Stirn und Hals. Seine Augen waren geschlossen, als er den Refrain anstimmte:
The troubadours wrote songs to salve heartbreak,
to let beloveds know their awful pain,
but words can’t bridge our gulf, my long heartache:
I’ll just keep walking in the pouring rain.
Als er sang, sah ich Bilder in seinem Kopf. Von mir. Becky hatte Recht gehabt. Jay war bis über beide Ohren in mich verliebt. Das, was mich dabei am meisten berührte, war die Tatsache, dass die Bilder, die er von mir im Kopf hatte, aus den glücklichsten Augenblicken meines Lebens stammten … blöde Kleinigkeiten, die ich schon fast vergessen hatte. Wie wir die Schule geschwänzt und mit der U-Bahn nach Brighton Beach gefahren waren, nur um über die Promenade zu schlendern und uns komplizierte Geschichten zu den russischen Pärchen auszudenken,
die auf Klappstühlen draußen saßen und sich von der blassen Wintersonne die Gesichter wärmen ließen. Wie wir in Second-Hand-Plattenläden nach seltenen Jazzaufnahmen gestöbert und dann ein Verlängerungskabel bis aufs Dach gelegt hatten, damit wir unsere Schätze dort draußen in den Sommernächten hören konnten. Wie wir spätnachts Wiederholungen alter Monty-Python-Sendungen geschaut und über den Sketch mit der »Spanish Inquisition« so gelacht hatten, dass ich Milch in die Nase bekam. Jay hat mich in Erinnerung behalten, wie ich Milch in die Nase bekomme. Oh Scheiße.
Offenbar hatte ich ein Geräusch gemacht, denn Jay öffnete nun die Augen. Zunächst wirkte er gar nicht besonders überrascht, als er mich dort stehen sah, aber dann machte er große Augen und ließ sein Plektron fallen.
»Oh«, sagte er, »ich habe gar nicht gehört, dass du gekommen bist.«
»Ich wollte dich nicht unterbrechen«, sagte ich und setzte mich ans andere Ende der Couch. »Äh, ist Becky …«
»Sie ist mit Fiona wieder nach Williamsburg gefahren.«
»Weißt du, du musst nicht mehr hier übernachten. Sie haben die Einbrecher geschnappt.«
»Ich kann ja gehen, wenn du willst.«
»Nein! So habe ich das nicht gemeint, Jay. Du bist mir hier immer willkommen. Du bist mein bester Freund …« Auch ohne jegliche übersinnliche Fähigkeiten hätte ich gespürt, wie er bei diesem Ausdruck zusammenzuckte. »Jay …«, begann ich. Er unterbrach mich – glücklicherweise, denn ich hatte keine Ahnung gehabt, was ich zu ihm hätte sagen können.
»Äh, weißt du, Garet, ich wollte dich eigentlich um einen Gefallen bitten.«
»Ja?«, brachte ich heraus und bereitete mich auf ein Bekenntnis ewiger Liebe vor.
»Sag mal, könnte ich vielleicht noch ein bisschen länger hier pennen? Auch wenn dein Dad wieder aus dem Krankenhaus zurück ist, meine ich? Ich könnte auf dem Sofa schlafen und mich ein bisschen um ihn kümmern. Ihm Suppe machen und so.«
»Natürlich, Jay, du kannst so lange bleiben, wie du willst … aber wieso …?«
Ich wusste die Antwort,
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