Blackout
damals. Aber sie war nicht hinter dem schnöden Mammon her. Sie war heimlich in den ‘›Großen‹ Mann verliebt. Ich hätte jede Summe darauf gewettet, daß sie ihn Doktor nannte. Ohne Namen dahinter. Einfach Doktor. Als wenn er der einzige auf der Welt wäre. »Ein paar Patientenblätter müssen heute noch ausgefüllt werden«, sagte sie.
»Okay, Edna.« Sandi wandte sich mir zu, schaute mich verschwörerisch an, als wollte sie sagen: Ist diese alte Hexe nicht lästig?, und ging hinaus auf den Korridor.
»Kann ich etwas für Sie tun?« fragte mich Edna und hatte die Arme noch immer verschränkt.
»Nein, danke.«
»Ja, dann… Der Doktor wird gleich kommen.«
»Danke.« Man mußte sie mit Höflichkeit fertigmachen. Durch ihre Blicke gab sie mir zu verstehen, daß sie keineswegs begeistert war über meine Anwesenheit. Kein Zweifel, alles, was die Routine des Doktors durcheinanderbrachte, wurde als Störung im Paradies empfunden. Aber schließlich ließ sie mich allein im Büro.
Ich schaute mich in dem Raum um. Der Schreibtisch war aus Mahagoniholz und etwas zerkratzt. Er war bedeckt mit hohen Stapeln von Tabellen, medizinischen Zeitschriften, Büchern, Post, Arzneimustern und einer Schale mit Heftklammern. Der Sessel dahinter und der bequeme Sessel, in dem ich mich niedergelassen hatte, waren einmal sehr teure Exemplare gewesen - hochpoliertes Leder, doch inzwischen gealtert und mit vielen Falten und Sprüngen versehen. An zwei von den Wänden hingen Diplome, viele davon schief oder sogar übereinander. Der Raum sah aus, als ob er ein kleineres Erdbeben hinter sich hätte - nichts zerbrochen, aber alles ein bißchen durcheinandergerutscht. Gelangweilt warf ich einen Blick auf die Diplome. Lionel W. Towle hatte im Lauf der Jahre eine beeindruckende Sammlung zusammengebracht: Auszeichnungen, Lizenzen, Niederlassungen, eine Plakette aus Walnußholz mit Hammer, die an seinen Vorsitz bei irgendeiner medizinischen Sonderabteilung erinnern sollte, die Ehrenmitgliedschaften bei dieser und jener Institution, Belobigungen für den Dienst an der Öffentlichkeit, für seine Tätigkeit als Berater beim Kinder-Wohlfahrtskomitee vom Senat des Staates Kalifornien und so weiter und so fort. An der dritten Wand waren Photos zu sehen, auf den meisten Towle selbst. Towle in Fischerkleidung, knietief in irgendeinem Fluß, die gebogene Rute in der Hand. Towle mit einem Marlin, so groß wie ein Buick. Towle mit dem Bürgermeister und einem kleinen, dicken Burschen mit Peter Lorre-Augen, alle lächelnd, alle händeschüttelnd.
Es gab eine einzige Ausnahme in dieser demonstrativen Selbstdarstellung. In der Mitte der Wand hing das Farbphoto einer sehr jungen Frau, die ein kleines Kind umarmte. Die Farben waren verblaßt, und nach der Kleidung zu urteilen, welche die Dargestellten anhatten, schien das Photo etwa drei Jahrzehnte alt zu sein. Das Ganze sah aus wie ein vergrößerter Schnappschuß. Die Töne waren verwischt, fast wie bei einem Pastell. Die Frau war hübsch, mit frischem Gesicht, dazu hatte sie Sommersprossen auf der Nase, dunkle Augen und mittellanges, braunes, natürlich gewelltes Haar. Sie trug ein glattes, kurzärmeliges Kleid aus gepunkteter Baumwolle, und ihre Arme waren schlank und zierlich. Sie umschlangen ein Kind - einen Jungen-, der etwa zwei Jahre oder noch jünger sein mußte. Ein schönes Kind mit rosigen Wangen, blond, mit geschwungenen Lippen und grünen Augen. Es trug einen weißen Matrosenanzug und strahlte über die Umarmung der Mutter. Die Berge und der See im Hintergrund sahen echt aus. »Ein schönes Photo, nicht wahr?« sagte die Stimme, die ich vom Telefon wiedererkannte.
Er war groß, mindestens einsfünfundachtzig, mit einem Gesicht, das in schlechten Romanen als ›gemeißelt‹ bezeichnet worden wäre. Zweifellos einer der am besten aussehenden Männer mittleren Alters, die mir jemals begegnet waren. Sein Gesicht wirkte edel- ein kräftiges Kinn mit einem kleinen Grübchen darin, die Nase eines römischen Senators und Augen in der Farbe eines klarblauen Himmels. Sein dichtes, schneeweißes Haar hing ihm in der Art von Carl Sandburg ein wenig in die Stirn. Seine Augenbrauen waren zwei weiße Wolken. Er trug einen kurzen weißen Kittel über einem blauen Oxford-Hemd, einer burgunderroten Krawatte und einer dezent karierten, dunkelgrauen Hose. Seine Schuhe waren schwarzes Kalbsleder. Tadellos und sehr geschmackvoll. Aber nicht die Kleidung machte den Mann. Er hätte auch in Unterhosen noch wie
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