Blackout
Rodney, schon gut.« Kruger redete beruhigend auf den Jungen ein. Er streckte die Hand aus und berührte den Jungen sanft am Kopf. Rodney wurde augenblicklich hysterisch. Seine Augen traten aus den Höhlen, und sein Kinn zitterte. Er schrie laut und wich so heftig zurück, daß er mit dem Hinterkopf an das metallene Bettgestell stieß. Jetzt riß er sich die Decke vors Gesicht und gab ein unverständliches Protestgeschrei von sich.
Kruger wandte sich zu mir und seufzte. Er wartete, bis sich der Junge erholt hatte, dann redete er wieder auf ihn ein. »Das mit dem Doktor besprechen wir später, Rodney. Aber wo sollst du denn eigentlich sein? Wo ist deine Gruppe jetzt?«
»Essen.«
»Hast du keinen Hunger?« Der Junge schüttelte den Kopf. »Bauchweh.«
»Du kannst doch nicht allein hier liegen. Entweder du kommst auf die Krankenstation, und wir rufen jemanden, der dich untersucht, oder du stehst jetzt auf und gehst zu deiner Gruppe zum Essen.«
»Kein Docka.«
»Okay, kein Doktor. Jetzt steh auf.«
Der Junge kroch aus dem Bett, auf der gegenüberliegenden Seite. Jetzt sah ich, daß er älter war als ich zunächst gedacht hatte. Mindestens achtzehn, mit schütter sprießendem Bart, der sein Kinn zierte. Er starrte mich aus weitgeöffneten, verängstigten Augen an.
»Das ist ein Freund, Rodney. Mr. Delaware.«
»Hallo, Rodney.« Ich streckte ihm die Hand entgegen. Er schaute sie an und schüttelte den Kopf.
»Sei freundlich, Rodney. So gewinnen wir unsere Punkte, erinnerst du dich?«
Er schüttelte den Kopf.
»Komm schon, Rodney, gib die Hand.«
Aber der behinderte Junge war nicht zu überreden. Als Kruger einen Schritt auf ihn zukam, wich er zurück und hielt sich beide Arme schützend vor das Gesicht.
So ging es ein paar Sekunden lang weiter- eine eindeutige Willenserprobung. Schließlich gab Kruger nach. »Okay, Rodney«, sagte er leise, »vergessen wir die gesellschaftlichen Formen für heute, weil du krank bist. Jetzt lauf zu und geh zu deiner Gruppe.«
Der Junge wich vor uns zurück und umkreiste in weitem Bogen das Bett. Noch immer hielt er schützend die Hände hoch, schüttelte den Kopf wie ein Boxkämpfer und entfernte sich dabei. Als er dicht vor der Tür war, drehte er sich um, schoß hinaus und lief draußen weiter, bis er in der hellen Sonne verschwand.
Kruger schaute mich an und lächelte schwach. »Er ist einer von den Schwierigen. Siebzehn, mit den Fähigkeiten eines Dreijährigen.«
»Er scheint große Angst vor dem Doktor zu haben.«
»Er hat vor allem möglichen große Angst. Wie die meisten mongoloiden Kinder hat er viele medizinische Probleme: Herzfunktionsstörungen, Infektionen, Zahnprobleme. Nimmt man dazu das gestörte Denkvermögen in dem kleinen Kopf, dann kommt schon einiges zusammen. Haben Sie Erfahrung mit mongoloiden Patienten gesammelt?«
»Einige.«
»Ich habe mit Hunderten von ihnen gearbeitet und kann mich nicht an einen einzigen erinnern, der keine ernsthaften medizinischen und emotionellen Probleme hatte. Wissen Sie, allgemein denkt man, sie sind wie alle anderen Kinder, nur langsamer. Aber das ist ein Irrtum.«
Eine Spur von Ärger war in seiner Stimme zu vernehmen. Ich schob ihn auf die Erniedrigung, weil er das psychische Pokerspiel mit dem behinderten Jungen verloren hatte. »Rodney hat einen langen Weg hinter sich«, sagte er. »Als ich hierher kam, war er noch nicht sauber. Nach dreizehn Waisenanstalten.« Er schüttelte den Kopf. »Es ist wirklich traurig. Manche von den Leuten, denen das County solche Sorgenfälle schickt, sind nicht einmal in der Lage, Hunde aufzuziehen, geschweige Kinder.«
Es sah aus, als sei er zu einer kleinen Ansprache bereit, doch dann hielt er inne und schaltete rasch wieder sein Lächeln ein. »Viele der Kinder, die wir bekommen, sind nur wenig zur Adoption geeignet: mongoloid, schwachsinnig, Mulatten, immer wieder in Waisenhäusern, von ihren Familien verstoßen. Wenn sie hierher kommen, haben sie keine Ahnung von einem halbwegs normalen Sozialverhalten, von Hygiene oder auch nur den einfachsten, täglich zu verrichtenden Dingen. Sehr oft fangen wir buchstäblich bei Null an. Aber wir freuen uns über jeden Fortschritt. Einer der Studenten schreibt eine Studie über unsere Ergebnisse.«
»Auf diese Weise kann man fabelhaft Fakten und Daten sammeln. «
»Ja, und ganz ehrlich gesagt, es hilft auch, wenn es darum geht, Gelder aufzutreiben, was oft das Entscheidende ist, Doktor, wenn man eine Institution wie La Casa aufrecht
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