Blackout - Kein Entrinnen
den Blick. Dabei wirkte er genauso altmodisch wie die Küche, und von einer Sekunde auf die andere sah ich ihn plötzlich, und zwar nicht nur als den Mann, an den ich mich aus meiner Kindheit erinnerte. Er trug Schlafanzughosen und einen grauen Baumwollmorgenmantel mit Gürtel, womit er den Schein akademischer Würde wahrte. Doch sein schütteres rotes Haar war weitgehend verschwunden und hatte eine glänzende hohe Stirn zurückgelassen. Hinter der Brille schauten müde Augen hervor. Nie zuvor hatte er auf mich einen erschöpften Eindruck gemacht.
»Wie auch immer. Ich nehme an, du wärest aus der Höhle, in der du dich versteckst, nicht herausgekrochen, wenn du nicht einen sehr guten Grund dafür hättest, und das heißt, dass du uns brauchst.« Dad starrte mich noch immer finster an und wählte seine Worte mit Bedacht. Auch das hatte er mit George gemeinsam. Sie wussten beide, wie man Sätze formuliert, um andere zu verletzen. »Wenn du möchtest, dass wir bei dem irrwitzigen Plan mitspielen, den du wahrscheinlich ausgeheckt hast, dann wirst du dich setzen und mit deinen Eltern wie ein zivilisiertes menschliches Wesen frühstücken.«
»Gut.« Ich schüttelte den Kopf. »Und wenn dabei ein paar Quoten für dich rausspringen, dann soll es dir recht sein, was?«
»Vielleicht«, gestand er ein.
»Oh, gut, dann sind wir ja alle beisammen.« Mom erschien hinter ihm mit gekämmtem Haar und etwas Grundierung auf der Wange. Nicht genug, um damit vor die Kamera zu treten – oh nein, niemals –, aber genug, um sie fünfzehn Jahre jünger aussehen zu lassen. Ihr Haar hatte dieselbe silbrig aschblonde Farbe wie eh und je.
Wie oft musstest du dir im letzten Jahr die Haare färben? , fragte ich mich insgeheim und fühlte mich sogleich schlecht, weil ich so etwas überhaupt dachte. Ich mochte die Masons nicht, und ich traute ihnen nicht. Aber letztlich waren sie alles an Familie, was mir noch blieb – und ich brauchte sie.
»Unsere Hände sind sauber«, verkündete ich, indem ich sie zur Inspektion hochhielt. Becks tat es mir gleich und überließ mir das Wort. Ich war ihr dafür so dankbar, dass ich sie hätte küssen können.
»Gut. Dann geh mal den Tisch decken.« Mom küsste Dad auf die Wange, eine flüchtige Berührung, die sie normalerweise für gestellte Fotos reservierte. Dann drängte sie sich an uns vorbei in die Küche. »In zehn Minuten sind Eier und Sojaschinken fertig.«
»Danke, Mom«, sagte ich. Ich öffnete einen Schrank, nahm vier Teller heraus und reichte sie Becks. Ein paar Sekunden später hatte ich Gläser und Silberbesteck aus ihren Fächern und Schubladen geholt. »Komm mit, Becks.«
»Okay«, sagte sie und folgte mir aus der Küche hinaus. Dad folgte ihr mit betont beiläufiger Miene, was mich nicht überraschte. Wahrscheinlich wollte er nur sichergehen, dass wir nicht das Weite suchten, bevor er uns auf den Zahn gefühlt und den Grund unseres Hierseins erfahren hatte.
Im leeren Esszimmer brannte Licht. Ich blieb in der Tür stehen, ein Kloß bildete sich in meinem Hals. Der Esszimmertisch war sauber. Der Esszimmertisch war nie sauber gewesen, nicht einmal wenn jemand gekommen war, um einen oder mehrere von uns zu interviewen. Stets war der Tisch ein Stein des Anstoßes zwischen den beiden Generationen im Haus gewesen. Mom und Dad bestanden darauf, dass das Esszimmer zum Essen da war, und George und ich hielten es für Verschwendung, wenn man einen völlig einwandfreien Tisch zwanzig Stunden am Tag ungenutzt ließ. Mindestens einmal im Monat zankten wir uns deshalb. Wir …
Aber das lag in der Vergangenheit. Ich schüttelte die Erinnerung ab und blinzelte die Tränen weg, die meine Sicht zu verwischen drohten. Dabei spürte ich Georgias tröstende Hand auf meiner Schulter.
In diesem Haus spukt es , sagte sie zärtlich. Aber in deinem Inneren auch, und du wirst schlimmer heimgesucht als sie. Du kriegst das schon hin.
»Shaun?«, fragte Becks. »Alles okay mit dir?«
»Ja«, sagte ich als Antwort auf sie beide. Ich trat ein und fing an, die Gläser auf dem Tisch zu verteilen. »Tut mir leid. Erinnerungen.«
»Wir haben eine Menge Erinnerungen, die mit diesem Haus verbunden sind – mit dieser Familie«, sagte Dad und umrundete den Tisch, damit er uns im Blick behalten konnte. »Es ist schön, dich zu sehen, mein Sohn.«
»Können wir das lassen?« Diesmal waren die Tränen schon zu weit, um weggeblinzelt zu werden. Mit einer raschen ruckartigen Bewegung fuhr ich mir mit dem Arm übers
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