BLACKOUT - Morgen ist es zu spät - Elsberg, M: BLACKOUT - Morgen ist es zu spät
hatten die Menge schließlich dazu angestachelt, die Verantwortlichen zur Rechenschaft zu ziehen, und darin sahen sie in erster Linie die Politiker. Die Masse hatte sich so träge und unaufhaltsam in Bewegung gesetzt wie eine Schlammflut nach einem Dammbruch. Mit einer diffusen Gefühlsmischung aus Faszination, Ärger und Neugier hatte sich Bollard mittreiben lassen bis zum Binnenhof, dem Sitz des niederländischen Parlaments.
Auf dem Weg durch die Stadt hatten sich laufend Menschen angeschlossen. Sie schätzte, dass Tausende skandierend den Platz erreichten. Ein paar Polizisten versuchten, sie aufzuhalten, wurden jedoch einfach beiseitegeschoben. Die Menge war so groß, dass der riesige Innenhof des Komplexes längst nicht alle fassen konnte. Sie füllten die Straßen rundum, bis zum Sitz der Zweiten Kammer gegenüber.
Auf ihrer letzten Demonstration war Bollard als Studentin gewesen, und das nur, um ihre Eltern zu ärgern. Sie fühlte sich unwohl zwischen all den lauten, aufgebrachten Menschen und gleichzeitig geborgen in diesem großen, warmen, sich bewegenden Organismus, der in manchen Momenten mit einer Stimme zu rufen, einer Lunge zu atmen, sich mit einem Körper zu bewegen schien. Beunruhigt und zugleich furchtlos spürte sie seine Energie auf sich übergehen. Sie ging nicht so weit, mit den anderen zu brüllen, blieb aufmerksam, darauf bedacht, die Distanz zu wahren, und merkte doch, dass sie sich dem Sog der wilden Empfindungen nur schwer entziehen konnte. Manche hatten Transparente mitgebracht, beschriebene Leinentücher zwischen Besenstiele gespannt. Ihre Rufe wurden nicht leiser. Im Gegenteil, sie schienen an Wucht zuzunehmen. Wie Wellen von stürmischer See, die den Gewittersturm ankündigten, ein um das andere Mal an die Klippen brandeten, jedes Mal höher, tosender.
Berlin
»Wir haben weitere Hinweise darauf, dass China hinter dem Angriff steht«, erklärte der NATO -General vom Bildschirm herab. Hinter ihm ahnte Michelsen das geschäftige Treiben im Kommandozentrum des NATO -Krisenstabs.
»Die Spuren gewisser Schadprogramme, die in den Systemen europäischer Netzbetreiber gefunden wurden, führen zu IP -Adressen in China.«
»Die führten auch nach Tonga«, antwortete der Bundeskanzler. »Und Sie wollen doch nicht eine kleine Südseeinsel verantwortlich machen?«
»Server auf Tonga und in anderen Ländern dienten den Angreifern nur zur Verschleierung«, erwiderte der General geduldig.
»Und wer sagt, dass das bei den chinesischen IP s nicht genauso ist?«
»Der Standort dieser ganz bestimmten IP -Adressen. Sagen Ihnen die Schanghai-Jiaotong-Universität und die Lanxiang-Berufsschule etwas?«
Ohne die Antwort des Bundeskanzlers oder des übrigen Krisenstabs auf seine rhetorische Frage abzuwarten, fuhr er fort: »Erinnern Sie sich an die Hackerattacken auf Google und andere amerikanische Firmen, die 2010 und 2011 durch die Medien gingen. Damals konnten IT -Forensiker, unter anderem von der US -amerikanischen National Security Agency, NSA , die Spur bis zu diesen zwei chinesischen Bildungseinrichtungen zurückverfolgen. Eine davon bildet IT -Spezialisten für das Militär aus. Warum das so interessant ist, erklärt Ihnen am besten Jack Guiterrez, ein Experte des United States Cyber Command. Jack?«
In einem kleineren Fenster am Bildschirm erschien ein Mann mit kurz geschorenen Haaren und Nickelbrille. »Regimes wie China oder Russland verwenden bei solchen Attacken andere Strategien als die Vereinigten Staaten oder die NATO «, erklärte er. »Bei uns werden dafür direkt die spezialisierten Einheiten des Militärs und der Nachrichtendienste eingesetzt. Dagegen schieben China oder Russland gern angeblich freiwillige ›patriotische Hacker‹ vor. Ein Beispiel dafür war der russische Angriff auf Estland im Jahr 2007. Denial-of-Service - Attacken blockierten die Webseiten estnischer Parteien, Medien, Behörden, Banken und Notrufnummern. Das heißt, von gekaperten Computern wurden an die betroffenen Webseiten so viele Anfragen verschickt, bis die Server unter der Flut zusammenbrachen. Tagelang konnten keine Löhne und Rechnungen bezahlt werden. Das Land wurde lahmgelegt, ohne dass ein einziger Schuss abgefeuert, eine einzige Bombe abgeworfen wurde. Nachträglich muss man das wahrscheinlich als den ersten Krieg über das Internet bezeichnen. Lange wusste man nicht, wer dahintersteckte. 2009 bekannte sich die Jugendorganisation des Kremls ›Naschi‹ zu der Sabotage. Und da haben Sie das Problem.
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