Blackout
das Chic mit seiner kindlichen Handschrift ein Zitat von Eleanor Roosevelt gekritzelt hatte:
Du musst alles so annehmen, wie es kommt. Das einzig Wichtige dabei ist, dass du dich den Dingen mutig stellst und immer dein Bestes gibst.
Chic hatte mir diesen Zettel nach meinem ersten Treffen bei den Anonymen Alkoholikern mitgegeben. Er war schon mehrmals abgefallen, aber ich hatte ihn mit Klebestreifen immer wieder befestigt.
Sich allem stellen. Einen Tag nach dem anderen. Das konnte ich. Ich konnte sogar noch mehr.
Ich hatte die entwendeten Fotos vom Tatort aus der Tasche geholt und neben meiner Zahnpasta auf die Ablage im Badezimmer gestellt. Wie ich schon Preston gegenüber bemerkt hatte, hatte ich keine offizielle Funktion mit den entsprechenden Befugnissen und Ansatzpunkten. Aber ich hatte etwas anderes, abgesehen von meiner besonderen Fähigkeit, auch im größten Chaos noch nachdenken zu können, abgesehen von meinen Freunden aus jedem bizarren Bereich meines Lebens, abgesehen von der Liste meiner Kontakte, die sich nun als merkwürdig geeignet erwies für, nun ja, für diese Lage.
Ich hatte eine Geschichte. Oder zumindest den Anfang einer Geschichte.
Aber – wie ich mich letzte Nacht schon gefragt hatte – wie sollte ich von hier aus weitermachen? Ich starrte die Bilder von Kasey Broach an, die von ihrer illegalen Reise leicht verknickt waren, und überlegte, warum ihre Leiche meinen Weg gekreuzt hatte. Ich klickte mich in meinem Palm durch die Liste von Beratern, die sich im Laufe von Derek Chainers Karriere angesammelt hatten – Elitesoldaten der Navy, Polizisten, Sheriffs, Bezirksstaatsanwälte, Gerichtsmediziner, hartgesottene Privatdetektive, weniger hartgesottene Angestellte von Wachgesellschaften, Feuerwehrleute, Kriminaltechniker. Ich nahm einen Block aus der Schublade meines Nachttischchens und notierte die Namen der Personen, die relevantes Wissen beisteuern konnten. Darunter legte ich eine Liste von Leuten an, die mich hassten oder mir schaden wollten.
Die Bertrands. Genevièves fiktiver Lover. Kaden und Delveckio.
Ein Gedanke ließ mich innehalten: Ich war in diese wenig beneidenswerte Lage geraten, weil ich eine bequeme Abkürzung genommen hatte. Ich hatte in meinem Leben so manche bequeme Abkürzung genommen. Die Frage war nur – welche davon wurden mir nun zum Verhängnis?
Es klingelte an der Tür. Immer noch nur mit einem Handtuch bekleidet machte ich dem Kurier meiner Anwälte die Tür auf, der mir die Akten meines Falls überreichte. Erstaunlich, wie viel Service man doch für eine Viertelmillion Dollar kriegt.
Ich hatte das Recht auf volle Einsicht in alle Beweise, die das LAPD in Genevièves Fall vor dem Prozess gesammelt hatte. Ich legte den Aktenordner auf den Küchentisch, der zustimmend wackelte, und blätterte ihn kurz durch.
Der Inhalt war mir zugleich vertraut und fremd. Die Dokumente schienen aus einer anderen Phase meines Lebens zu stammen, obwohl das endgültige Urteil doch erst vorgestern ergangen war.
Gus schleppte seine beträchtlichen Hüften über die Veranda und sah mich aus seinen schwarzen Marmoraugen an. Er verschwand genau eine Sekunde, bevor ein herabschießender Falke seinen Sturzflug abbrach und auf dem Geländer landete. Dem Schnitter Tod immer einen Eichhörnchenschritt voraus.
Du musst mit deinem Plot arbeiten. Sonst arbeitet der Plot mit dir.
Ich zog einen meiner Romane aus dem Regal, in dem ich meine Bücher eitel aufgereiht hatte, und zwängte ihn unter ein Tischbein. Er hatte genau die richtige Dicke, um meinen wackelnden Küchentisch zu stabilisieren. Dann zog ich mir eine Jogginghose und ein zerrissenes T-Shirt an, das ich seit College-Tagen besaß, sammelte den Müll zusammen, den der LAPD rundum verstreut hatte, fegte den Flur, überklebte die zerbrochenen Glasscheiben in der Haustür und saugte die Glasscherben auf.
Anschließend setzte ich mich hinter meinen Schreibtisch, stellte die Armstützen meines Lehnstuhls ein Stück weiter nach vorne, schnappte mir einen Kuli und steckte ihn mir hinters Ohr. Meinen Notizblock legte ich zu meiner Linken auf den Tisch, die Aufzeichnungen vom LAPD zu meiner Rechten, neben das Mousepad. Nachdem ich die Laborberichte, Polizeiprotokolle, Ermittlungsnotizen und den Bericht des Pathologen aus dem Ordner genommen hatte, verteilte ich alle Papiere gleichmäßig auf dem Tisch.
Dirk Grübchenkinn kann mir nichts vormachen.
Ich hatte die erste Recherchephase abgeschlossen. Ich kannte die handelnden Personen.
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