Blankes Entsetzen
Schläge. Sie hatte Angst, dass Tony ihr kleines Mädchen eines Tages wirklich verletzen könnte, dass er jede Beherrschung verlor und Irina auf den Kopf oder den Leib schlug, statt auf Arme und Beine, wie jetzt. Andererseits führte der Umstand, dass die Gliedmaßen des Kindes oft von dunklen Blutergüssen bedeckt waren, zu Joannes zweiter großer Angst: dass es sehr bald jemand herausfinden würde.
»Bist du sicher«, hatte Sandra sie ein paar Wochen zuvor gefragt, »dass du sie nicht in den Kindergarten schicken willst?«
»Ganz sicher«, antwortete Joanne.
»Ich habe dir ja schon gesagt, dass …«
»Hast du, Mom.«
»Ich weiß, du willst das Beste für Irina, aber wenn sie in jeder Minute so nahe bei dir ist, ist das nicht unbedingt gut für sie.«
»Sie ist sehr schüchtern«, sagte Joanne.
»Und das wird sie auch bleiben, solange du sie lässt«, erwiderte Sandra.
»Ich weiß, was ich tue«, sagte Joanne.
»Aber ich weiß nicht, warum du darauf bestehst, jede Windel selbst zu wechseln, wenn du doch eine perfekte Oma zur Hand hast, die es dir nur zu gern hin und wieder abnehmen würde.«
»Sie fängt an zu weinen, wenn jemand anders ihr die Windeln wechselt«, log Joanne.
»Aber ich bin nicht irgendjemand«, sagte ihre Mutter.
Wenn sie die Wahrheit wüsste, dachte Joanne und schwieg, wenn sie auch nur ein Viertel der Wahrheit wüsste, würde ihre Mutter vielleicht nie wieder ein Wort mit ihr sprechen. Und das zu Recht, denn es war eine unumstößliche Tatsache, dass Joanne die schlechteste Mutter der Welt war – ganz gleich, wie groß ihre Liebe für Irina war, ganz gleich, wie schrecklich ihre Angst, dass man ihr ihre Tochter wegnehmen könnte. Sie war feige und 110
ließ alles weiterlaufen.
Ließ ihn weitermachen.
Und doch sagte sie nichts, betete nur zu Gott, dass es aufhören würde. Dass er aufhören würde.
Eines Abends im Juni kam Tony nach Hause und hatte, wie er später behauptete, »richtig gute Laune«, die Joanne ihm jedoch verdarb, indem sie ihn bat, Irina nicht zu wecken, die den ganzen Tag quengelig gewesen und gerade erst eingeschlafen war.
»Ich will nur kurz zu ihr reinschauen«, sagte er.
»Sei leise«, sagte sie.
»Natürlich«, sagte er. »Ich bin schließlich kein völliger Idiot, auch wenn du das denkst.«
»Ich denke nichts dergleichen«, sagte sie. »Ich bin einfach nur müde, und dass Irina geweckt wird, kann ich jetzt am wenigsten gebrauchen.«
»Weil ich das ja immer tue, nicht wahr?«
»Nein, natürlich nicht.« Sie wusste bereits, was passieren würde, und hätte sich erwürgen können, dass sie nicht den Mund gehalten hatte.
»Weil es immer ich bin, und nur ich, der sie zum Weinen bringt, stimmt’s?«
»Fang nicht an, Tony«, sagte Joanne leise. »Bitte.«
»Ich habe gar nichts angefangen«, sagte er. »Ich bin in halbwegs guter Laune nach Hause gekommen! Ein einziges Mal in diesem verdammten Misthaufen, in den mein Leben sich verwandelt hat!«
Er stand schon an der Treppe, den Fuß auf der ersten Stufe, und Joanne wusste, dass es zu spät war, ihn aufzuhalten. Sie hätte ihn ohnehin nicht aufhalten können, außer vielleicht, 111
indem sie ihm etwas Schweres an den Kopf warf – und an so etwas hatte sie in den letzten paar Jahren mehr als einmal gedacht.
»Bitte.« Mehr sagte sie nicht.
So schlimm war es noch nie gewesen. Zum ersten Mal wusste Joanne, dass ihr keine andere Wahl blieb, als ihr kleines Mädchen in eine Decke zu wickeln und ins Krankenhaus zu fahren, um sicherzugehen, dass Tony die Kleine nicht ernstlich verletzt hatte.
»Du bist ein Ungeheuer«, sagte sie beinahe ruhig zu ihm, bevor sie aus der Tür ging.
»Ich konnte nicht anders«, sagte er mit bleichem Gesicht und lehnte sich taumelnd an die Wand neben der Haustür. »Sie ist aufgewacht, hat nur einen Blick auf mich geworfen und wieder losgekreischt, und da …«
»Halt den Mund, Tony.« Joanne öffnete die Tür. »Ich will nichts hören.«
»Sie hasst mich, Jo. Ich hab’s dir gesagt.«
»Komm her, Liebes«, sagte Joanne zärtlich zu Irina, die schwer und jetzt erschreckend still in ihren Armen lag.
»Es tut mir Leid«, sagte Tony. »Es tut mir schrecklich Leid.«
»Fahr zur Hölle«, sagte Joanne über die Schulter.
»Wie fühlst du dich jetzt, Schätzchen?«, fragte sie ihre Tochter, als sie ihren Fiesta vorsichtig Richtung Waltham General Hospital steuerte.
»Ganz gut, Mami.« Eine kleine, traurige, tapfere Stimme.
»Es tut mir sehr Leid, Irina«, sagte Joanne.
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