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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
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er einfach alles getan hätte, war mittlerweile auch nicht besser – sie warf ihm ständig diese kleinen Seitenblicke zu, die ihm sagten, dass sie ihn für eine Art Ungeheuer hielt.
    »Was ist bloß mit dir?«, fragte Paul Georgiou ihn eines Abends im Mai, als sie an der Bar des Crown and Anchor herumhingen.
    »Nichts.« Doch Tony wünschte sich bestimmt schon zum hundertsten Mal, über seine Probleme sprechen zu können.
    »Irgendwas stimmt doch nicht«, beharrte Paul. »Du ziehst ein Gesicht wie sieben Tage Regenwetter, und das schon seit Monaten, Kumpel.«
    »Das Geschäft läuft mies.« Das zumindest war nicht gelogen.
    »Ist das alles?«
    »Das ist ja wohl verdammt noch mal genug«, sagte Tony. »Die Rechnungen kommen mir zu den Ohren raus, ein Kunde droht, Anzeige gegen mich zu erstatten oder mich zusammenschlagen zu lassen …«
    »Was hast du ihm denn getan?« Paul blickte ihn beeindruckt an.
    »Nichts. Er hatte einen Unfall, nachdem ich seinen Mercedes repariert hatte.«
    »Schlimmer Unfall?«, fragte Paul.
    »Nicht besonders schlimm, aber er macht eine Riesensache daraus.«
    »Und das ist der Grund, warum du so eine Stinklaune hast?«
    »Ja«, sagte Tony. »Das reicht vollkommen, das kann ich dir sagen.«
    »Aber …« Paul stockte.
    »Was?«
    Paul sah ihn unbehaglich an. »Es ist nur, dass Nicki und ich … wir können nicht vermeiden, euch zu hören. Die Wände sind verdammt dünn.«
    »Und?« Tonys immer noch attraktives, aber zunehmend dickeres Gesicht nahm einen kampflustigen Ausdruck an. »Was hört ihr denn, Nicki und du?«
    Die Verunsicherung seines Nachbarn wuchs. »Na ja … dass Joanne und du euch streitet.«
    »Na und? Dann streiten wir eben«, sagte Tony. »Wer tut das nicht?«
    »Jeder streitet. Nicki und ich geraten ständig aneinander.«
    »Na also«, sagte Tony. »Dann ist es ja keine große Sache, oder? Wir sind nur Menschen, nicht wahr?«
    »Sicher«, sagte Paul. »Ich wollte mich nicht in Dinge einmischen, die mich nichts angehen, Kumpel.«
    »Gut«, sagte Tony.
    Joanne lebte jetzt fast an jedem Tag ihres Lebens in Angst.
    Die Klapse, die Tony der mittlerweile vier Jahre alten Irina versetzte, waren schon schlimm genug und trieben ihre Mutter fast in den Wahnsinn vor Wut und Verzweiflung, doch was Joanne richtig Angst machte, waren die ausgewachsenen Schläge. Sie hatte Angst, dass Tony ihr kleines Mädchen eines Tages wirklich verletzen könnte, dass er jede Beherrschung verlor und Irina auf den Kopf oder den Leib schlug, statt auf Arme und Beine, wie jetzt. Andererseits führte der Umstand, dass die Gliedmaßen des Kindes oft von dunklen Blutergüssen bedeckt waren, zu Joannes zweiter großer Angst: dass es sehr bald jemand herausfinden würde.
    »Bist du sicher«, hatte Sandra sie ein paar Wochen zuvor gefragt, »dass du sie nicht in den Kindergarten schicken willst?«
    »Ganz sicher«, antwortete Joanne.
    »Ich habe dir ja schon gesagt, dass …«
    »Hast du, Mom.«
    »Ich weiß, du willst das Beste für Irina, aber wenn sie in jeder Minute so nahe bei dir ist, ist das nicht unbedingt gut für sie.«
    »Sie ist sehr schüchtern«, sagte Joanne.
    »Und das wird sie auch bleiben, solange du sie lässt«, erwiderte Sandra.
    »Ich weiß, was ich tue«, sagte Joanne.
    »Aber ich weiß nicht, warum du darauf bestehst, jede Windel selbst zu wechseln, wenn du doch eine perfekte Oma zur Hand hast, die es dir nur zu gern hin und wieder abnehmen würde.«
    »Sie fängt an zu weinen, wenn jemand anders ihr die Windeln wechselt«, log Joanne.
    »Aber ich bin nicht irgendjemand«, sagte ihre Mutter.
    Wenn sie die Wahrheit wüsste, dachte Joanne und schwieg, wenn sie auch nur ein Viertel der Wahrheit wüsste, würde ihre Mutter vielleicht nie wieder ein Wort mit ihr sprechen. Und das zu Recht, denn es war eine unumstößliche Tatsache, dass Joanne die schlechteste Mutter der Welt war – ganz gleich, wie groß ihre Liebe für Irina war, ganz gleich, wie schrecklich ihre Angst, dass man ihr ihre Tochter wegnehmen könnte. Sie war feige und ließ alles weiterlaufen.
    Ließ ihn weitermachen.
    Und doch sagte sie nichts, betete nur zu Gott, dass es aufhören würde.
    Dass er aufhören würde.
    Eines Abends im Juni kam Tony nach Hause und hatte, wie er später behauptete, »richtig gute Laune«, die Joanne ihm jedoch verdarb, indem sie ihn bat, Irina nicht zu wecken, die den ganzen Tag quengelig gewesen und gerade erst eingeschlafen war.
    »Ich will nur kurz zu ihr reinschauen«, sagte er.
    »Sei

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