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Blankes Entsetzen

Blankes Entsetzen

Titel: Blankes Entsetzen Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Hilary Norman
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aufrichtig. »Es wird wohl keiner von uns je lernen, was man in Zeiten wie diesen sagen sollte.«
    »Das ist nicht leicht«, erwiderte Sandra freundlich.
    Sie war bleich, aber ziemlich gefasst. Doch es war keine echte Selbstbeherrschung, das wusste Keenan. Vor allem lag es daran, dass Sandra Rücksicht auf das Kind nahm.
    »Wenn Sie das Gefühl haben«, wagte er sich behutsam vor, »es sei an der Zeit, Irina das von ihrer Mutter zu erzählen, und wenn Sie dabei ein wenig Unterstützung brauchen, ist es sicher hilfreich, Constable Dean in Ihrer Nähe zu haben.«
    Karen Dean ließ den Wasserkocher stehen, den sie eben gefüllt hatte, und trat näher an den Tisch. »Ich möchte mich aber nicht aufdrängen, Mrs Finch«, sagte sie.
    »Sagen Sie Sandra zu mir«, erwiderte die trauernde Frau.
    »Sehr gern«, sagte Karen.
    »Stört es Sie, wenn ich mich zu Ihnen setze?«, fragte Keenan. »Um ein bisschen zu reden?«
    »Warum sollte mich das stören?«, sagte Sandra. »Schließlich ist es ja in meinem Interesse, Ihnen zu helfen.«
    Keenan warf einen Blick in die Zimmerecke. »Hat Irina einen tiefen Schlaf?«
    »Ich weiß es nicht genau«, antwortete die Großmutter. »Normalerweise schon, glaube ich.«
    »Sie ist ein sehr hübsches kleines Mädchen«, sagte Keenan.
    Die alte Frau lächelte, während ihr gleichzeitig Tränen in die Augen schossen. »Sie ist adoptiert. Als sie drei Monate alt war. Sie war ein Waisenkind aus Rumänien.«
    »Irina«, sagte Keenan und verstand den ungewöhnlichen Namen und die fast schwarzen Augen.
    »Es ist wundervoll, auf diese Weise zu helfen«, sagte Karen Dean.
    Sandra nickte und kämpfte vergeblich gegen die Tränen an. Sie presste sich ein bereits durchnässtes Taschentuch auf die Augen. »Joanne hat sehr lange darauf gewartet, Irina zu bekommen«, sagte sie nach einer Weile. Sie wischte sich das Gesicht ab, dann hielt sie das Taschentuch mit der rechten Faust. »Sie hat sich sehnlichst ein Baby gewünscht, aber sie und Mike konnten keins bekommen.«
    »Adoption ist eine schwerwiegende Entscheidung für die meisten Paare«, sagte Keenan. »Ich weiß, dass es für manche Väter schwierig ist, das Kind eines anderen Mannes großzuziehen.«
    Karen ging zurück zum Wasserkocher, näher ans Fenster.
    »Ich würde nicht sagen, dass mein …« Sandra stockte.
    »Was würden Sie nicht sagen, Mrs Finch?«, fragte Keenan.
    Sie senkte die Stimme. »Ich wollte sagen, dass mein Schwiegersohn mir nie als besonders väterlicher Mensch erschienen war, aber bei der Adoption hat er Joanne voll und ganz unterstützt.« Sie schüttelte den Kopf bei der Erinnerung. »Die beiden haben einen Fernsehbericht über die Waisen da drüben gesehen, wissen Sie. Danach wollten sie unbedingt ein Kind adoptieren.«
    »Das dürfte nicht ganz einfach gewesen sein.« Dean ließ ein paar Teebeutel in die blauweiße Kanne fallen.
    »War es auch nicht«, sagte Sandra. »Joanne sprach nicht viel darüber – sie war ein bisschen abergläubisch und hatte Angst, dass es schief gehen würde, wenn sie zu viel darüber sprach –, aber sie erzählte mir immer, dass Tony partout nicht aufgeben wollte.« Sie hielt inne. »Jetzt sind es viereinhalb Jahre, seit sie Irina nach Hause geholt haben.« Ihre Stimme bebte. »Sie hat Joanne sehr glücklich gemacht … sie war eine wunderbare Mutter.«
    Zum ersten Mal verlor sie die Fassung. Sie schluchzte und verbarg das Gesicht in den Händen. Ihre Schultern bebten.
    Als hätte der Schmerz ihrer Großmutter sie geweckt, war von oben plötzlich Irinas Weinen zu hören.
    Sandra hob den Kopf, stand auf, zog ein paar Papiertücher aus der Schachtel auf dem Tisch und trocknete sich die Augen ab. »Ich gehe lieber zu ihr.« Sie putzte sich die Nase. Als sie zum Treteimer ging, um die Tücher hineinzuwerfen, sah sie Tony, der draußen unglücklich und in hilflosem Zorn auf einen Grasstreifen eintrat. »Er regt sich sehr auf, wenn Irina weint.«
    »Wirklich?«, fragte Keenan. »Alle Kinder weinen doch.«
    »Natürlich.« Sandra hielt inne, um zu horchen. Von oben war kein Laut mehr zu hören. »Joanne hat sich nie groß dazu geäußert, aber es war trotzdem offensichtlich, weil sie immer dafür sorgte, dass Irina möglichst wenig weinte. Als sie klein war, gab sie ihr jedes Mal ein Extra-Fläschchen oder nahm sie auf den Arm.«
    »Wird Tony wütend, wenn Irina weint?«, fragte Keenan beiläufig.
    »Ob er wütend wird, weiß ich nicht«, sagte Sandra, die sich plötzlich unbehaglich zu fühlen

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