Blaubeertage (German Edition)
fahren ins Krankenhaus. Und zwar sofort.«
Ich gehe im Flur auf und ab und warte darauf, dass der Arzt mir sagt, was los ist. Ich bin seit zwei Stunden hier. Als er endlich rauskommt, habe ich das Gefühl, gleich zusammenzubrechen. Er schaut sich um – ich frage mich, worauf er wartet – und sagt: »Bloß du?«
»Bloß ich?« Ich verstehe seine Frage nicht.
»Bist du mit irgendjemandem zusammen hier?«
»Ach so. Nein. Bloß ich.« Ich fühle mich schrecklich. Vielleicht hätte ich Matthew anrufen sollen. Er sollte auch hier sein. Er hat das Recht, informiert zu werden. Ich nehme mir vor, mir seine Nummer rauszusuchen und ihn anzurufen, sobald ich mit dem Arzt gesprochen habe. »Bitte sagen Sie mir, wie es meiner Mom geht.«
»Ihr geht es besser. Wir machen ein paar Untersuchungen und versuchen, verschiedene Ursachen auszuschließen. Wir haben ihr etwas gegeben, damit sie besser schlafen kann.«
»Und, äh …« Ich weiß nicht, wie ich es ausdrücken soll. »Ist mit dem Baby alles okay?«
»Baby?« Er macht große Augen und schaut auf sein Klemmbrett. »Hat sie dir gesagt, dass sie schwanger ist?«
»Nein. Ich dachte bloß, dass es sein könnte.«
»Nein. Sie ist nicht schwanger. Aber wir machen noch ein paar zusätzliche Tests, um sicherzugehen.«
Ich schäme mich, weil ich ein klitzekleines bisschen erleichtert bin. Allerdings schäme ich mich nicht lange, denn wenn diese Möglichkeit so gut wie vom Tisch ist, dann bedeutet das, dass sie etwas Ernsteres hat, so viel ist klar. Die Sorge, die jetzt die Oberhand nimmt, lässt keinen Platz mehr für ein schlechtes Gewissen. »Ist sie ernsthaft krank?«, frage ich mit erstickter Stimme.
»Ja, und wir versuchen herauszufinden, was die Ursache sein könnte. Einige der schlimmeren Krankheiten haben wir bereits ausgeschlossen, das ist schon einmal gut.« Er tätschelt mir die Schulter, als ob das seine Worte besser machen würde. »Bald werden wir mehr wissen.«
»Darf ich sie sehen?«
»Sie schläft und im Moment sollte sie sich ausruhen. Ich verspreche dir, dass wir dich sofort verständigen, sobald sie aufwacht.« Er schweigt einen Moment und sieht sich um. »Eigentlich solltest du um diese Zeit wirklich nicht allein hier sein.«
Aber ich bin allein. Meine Mutter ist alles, was ich habe. »Ich habe kein Handy.«
»Kannst du mir dann die Nummer geben, unter der wir dich erreichen können?«
Schon oft in meinem Leben habe ich mich geärgert, dass ich kein Handy habe wie alle anderen in meinem Alter. Aber in diesem Moment, als ich mich einfach nur auf einem der Steinzeit-Sofas im Wartebereich zusammenkauern möchte, ist es das erste Mal, dass ich das Gefühl habe, ohne eins geht es um Leben und Tod. Vielleicht sollte ich zu Skye fahren. Aber was ist, wenn sie nicht da ist? Skyes Haus ist zehn Minuten weiter entfernt vom Krankenhaus als der Laden. Zehn Minuten weiter vom Krankenhaus entfernt kommt nicht infrage. Ich gebe ihm die Nummer vom Laden und gehe.
Ich fahre sofort nach Hause, laufe nach oben und setze mich neben das Telefon.
Nein, das funktioniert so nicht. Ich muss mich mit irgendetwas beschäftigen. Im Laden gibt es immer etwas zu tun. In all den Jahren, die ich hier schon wohne, habe ich noch nie um ein Uhr morgens Regale geputzt. Als ich mich dem Fenster zuwende, erstrahlt bereits eine ganze Regalwand in neuem Glanz und ich schwitze. Ich nehme mir die nächste Wand vor. Ungefähr auf der Hälfte der zweiten Regalwand finde ich ein Namensschild ohne Puppe. Carrie. Ich durchsuche die Regale, aber sie ist nicht da. Meine Mom muss sie heute verkauft haben. Sie hat vergessen, das Namensschild für die nächste Bestellung in die Schublade zu legen.
Allerdings brauchen wir Carrie eigentlich nicht extra zu bestellen. Sie ist beliebt: Wir haben immer mindestens zwei Ersatzpuppen für sie auf Lager. Sie ist ein schlafendes Baby, ein Neugeborenes mit friedlichem Gesichtsausdruck. Alle lieben diese Puppe. Selbst ich finde sie ganz süß, was ein kleines Wunder ist, wenn man bedenkt, was für Angst mir Puppen sonst einjagen.
Ich gehe nach hinten. Drei Schachteln mit der Aufschrift »Carrie« stehen nebeneinander im zweiten Regalfach. Das Fach ist niedrig genug, um es problemlos erreichen zu können; ich ziehe eine der Schachteln also einfach heraus. Sofort weiß ich aufgrund ihres Gewichts, dass sie leer ist, aber ich öffne sie trotzdem, was meinen Verdacht bestätigt. Ich ziehe die nächste Schachtel hervor. Leer. Ich ziehe alle Schachteln heraus, egal
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