Blaues Gift - Almstädt, E: Blaues Gift
jedem Fall Dorothea Bauer. Das Opfer wurde in so einem Fall immer doppelt und dreifach bestraft. Die ärztliche Untersuchung, die peinlichen Befragungen, das Entsetzen in den Augen aller Beteiligten. Und das alles mit zwölf!
Das Mädchen hatte Todesängste ausgestanden, war körperlich und seelisch aufs Tiefste verletzt worden. Im Grunde ihres Herzens glaubte Pia nicht, dass solche Narben jemals verheilen konnten. Besonders, da der Täter nie gefasst worden war. Heutzutage wäre es wahrscheinlich einfacher. Durch DNA-Analysen hätte man mehr Möglichkeiten, besonders wenn der Täter aus der Umgebung stammte. Doch DNA-Analysen waren in Deutschland erstmals in den späten Achtzigern eingesetzt worden, um Verbrecher zu überführen. Dorothea Bauer war 1982 vergewaltigt worden. Genau hier.
Als ein Zweig im Unterholz knackte und ein Vogel aufflatterte, fuhr Pia zusammen. Sie konnte diesen friedlichen Ort nicht ohne das Wissen um die Vergangenheit wahrnehmen. Es war der Ort eines Gewaltverbrechens, blieb es, solange es Menschen gab, die sich daran erinnerten.
Ob Dorothea oder Marlene jemals wieder hergekommen waren? Oder der Täter selbst? Lebte er noch in der Nähe des Deisters? Oder war er wie Marlene in Lübeck gelandet, wo ein unglückseliger Zufall ihn mit der Zeugin seines Verbrechens konfrontiert hatte? Oder gar mit seinem Opfer?
War der Mann nach 20 Jahren erkannt worden, hatte er sich verraten oder sogar die Nähe seines Opfers gesucht?
War Holger Michaelis der Mann, der all dieses Unglück heraufbeschworen hatte? Gerächt nach 20 Jahren? Dann blieb immer noch eine Frage offen. Wo verdammt steckte Marlene?
25. Kapitel
P ias Gedanken drehten sich im Kreis. Sie erhob sich, warf einen letzten Blick zu den Resten des Baumhauses hinauf und machte sich auf den Rückweg zum Waldparkplatz. Kurz bevor sie ihn erreichte, begegnete ihr eine kleine Gruppe Wanderer mit Kniebundhosen und Wanderstöcken. Auch wenn es zeitweise so wirken mochte, wirklich allein war man in so einem Wald höchstens nachts. Es ist für den Täter ein hohes Risiko gewesen, einem Mädchen durch den Wald zu folgen, dachte sie bei sich. Wahrscheinlicher war, dass der Täter die Lichtung kannte und wusste, dass die Mädchen dort oft spielten. Er hatte Dorothea vielleicht von irgendwoher in den Wald gehen sehen und sie dann am Rande der Lichtung abgefangen. Das wäre für ihn wesentlich einfacher und ungefährlicher gewesen. Das bedeutete aber auch, dass er die Mädchen über einen längeren Zeitraum hatte beobachten müssen. Er hatte tagsüber Zeit gehabt. Er stammte aus der unmittelbaren Umgebung.
Pia fragte sich, ob das Gespräch mit der pensionierten Polizistin ihnen Klarheit darüber verschaffen konnte, wie die Ermittlungen damals verlaufen waren. Jetzt, wo sie den Tatort gesehen hatte, war sie sich fast sicher, dass der Täter sein Opfer gekannt haben musste. Daher auch die Motorradmaske ...
Und Marlene wusste vielleicht mehr, als in den Akten stand. Pia, die sich durch die Einsamkeit der Waldlichtung dem Verbrechen plötzlich sehr nahe fühlte, schwirrten die seltsamsten Gedanken durch den Kopf: Wut, Hass und Ohnmacht erschienen ihr wie ein auswegloser Sog nach unten. Ich würde meine Freundin hassen, weil sie verschont geblieben ist und ich nicht, dachte sie zu ihrer Bestürzung. Marlene hatte keine Hilfe geholt, sie hatte abgewartet ... Sie hatte Dorothea Bauer im Stich gelassen.
Hass, Neid, vielleicht auch Eifersucht. Dorothea, die Tochter der Kellnerin, und Marlene, das verwöhnte Einzelkind eines älteren Lehrerpaares. Nicht standesgemäß, der Umgang ... und Marlene, so hübsch und so makellos, blieb von allem verschont.
Als Pia vor dem Haus ihrer Berufskollegin eintraf, erwartete Broders sie bereits mit unbewegtem Gesicht. Er hatte die Hände in die Taschen seiner Jacke vergraben und die Schultern wie so oft hochgezogen.
»Wo hast du dich denn rumgetrieben?«, fragte er statt einer Begrüßung.
»Ich war im Wald. Deister-Wanderweg, ganz zauberhaft.«
»Das sieht man.«
»Wieso?«
»Du hast ein Blatt im Haar.«
Pia zupfte sich das Grünzeug vom Kopf und folgte Broders den schmalen Gehweg zur richtigen Haustür des Reihenhauses. 12a,b,c,d ... je ein vergittertes Toilettenfenster neben der Eingangstür, Waschbetonplatten, wenig Unkraut, dafür Tulpen und Stiefmütterchen in Töpfen und Blumenkästen. Vor der Tür von Frau Tietge befanden sich jedoch keine Blumentöpfe, dafür ein halb gefüllter Müllsack, der an der
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