Blaufeuer
angeflogen, hat sich an ihm festgebissen und anfangs nur einen kleinen Tropfen Blut aus ihm herausgesaugt. Was macht man mit einem Moskito? Draufhauen natürlich, doch wenn ein ganzer Schwärm anrückt, was dann? Jetzt liegt er da und schlägt um sich, und für jedes Biest, das er erwischt hat, kommen hundert neue und umschwirren ihn: lieber tot, lieber tot, lieber tot. Egal, gegen welche Mauern er gerannt ist, wie ofter am Boden lag, wie dreckig es ihm ging - diesen Gedanken hat er nie gehabt. Weil er aufstehen und sich beim nächsten Mal noch mehr Mühe geben konnte. Mühe macht sich bezahlt, so lautet der Deal. Doch irgendein erbarmungsloser Strippenzieher hat die Verträge aufgekündigt, ohne Absprache. Seit Tagen befiehlt er seinen Lidern, sich zu heben - nichts. Er versucht, Kontakt zu Armen und Beinen aufzunehmen - Funkstille. Daran, wie Sprechen funktioniert, erinnert er sich nicht einmal. Alle Mühen vergebens. Dann lieber tot.
Wenn sie wenigstens ab und zu Beruhigungsmittel in ihn hineinpumpen würden. Er bekommt viel mehr mit, als sie denken: wie die Schwestern ihn waschen oder Kanülen in ihn hineinjagen. Wie sie über andere Patienten lästern. Er vermutet, dass sie bei anderen Patienten über ihn lästern. Das passt ihm nicht, und er würde es ihnen gern sagen.
Er bekommt oft Besuch, vor allem von Meinhard. Vermutlich hat er sich frei genommen. Dieser Narr. Versteht nicht zu leben. Der erste Urlaub seit Jahren, und was macht er? Sitzt Stunde um Stunde bei seinem hinfälligen alten Herrn am Krankenbett und liest ihm Schuld und Sühne vor. Wenn das so weitergeht, sind sie bald durch mit dem Buch. Der Junge vergisst darüber sogar, seine Klamotten in Ordnung zu halten: Sein Mantel verbreitet einen klammen Mief.
Viktoria, die soeben eingetroffen ist und ihren Sohn knapp verfehlt hat, ist mal wieder wütend auf ihn. Ihre Vorwürfe wiegen schwer: Wegen ihm kann sie nicht mehr malen. Wegen ihm hat sie ihr Selbstbewusstsein verloren, was er für ausgemachten Quatsch hält. Sie mag vieles verloren haben im Lauf der Jahre, aber bestimmt nicht ihr Selbstbewusstsein. Was soll er denn bitte sagen? Er hat keinen Nerv, sich dieses Gejammer anzuhören, und kann sich nicht einmal die Ohren zuhalten.
»Wegen dir ist Janne nach Helgoland gefahren, und ich hockeallein zu Hause. Paul, du kannst dir nicht vorstellen, wie deprimierend das ist.«
Er kann sich weitaus Deprimierenderes vorstellen. Ha, er muss es sich nicht mal vorstellen. Warum geht sie nicht aus? Trifft ihre Freundinnen? Er hat sie nie gezwungen, zu Hause zu hocken.
»Sie sagt, du hättest dich bei unseriösen Geschäften strafbar gemacht. Wie kommt das Mädchen darauf?«
Manchmal ist es angenehm, nicht antworten zu können. Oh, Janne, Kind, bist du etwa hinter die Sache mit der Tyne gekommen?
In Gedanken rechtfertigt er sich vor seiner Tochter. Dass das Risiko zwar erheblich, aber im Grunde überschaubar war und der Nutzen immens. Dass es sittlich vertretbar war, eines der reichsten Versicherungshäuser des Kontinents um eine bescheidene Summe zu erleichtern. Ach, egal, er ist ein schlechter Lügner, es war auch das Abenteuer, das ihn lockte.
Er weiß noch, wie sie in jener Nacht an Deck der Tyne standen, Birger Harms, Klaas Tegtmeyer und er. Wellen wie Wolkenkratzer. Krappe See: kurze Abstände zwischen den Brechern. Und das Beste: Der Sturm war nicht angekündigt worden, sodass ihnen hinterher niemand Fahrlässigkeit vorwerfen konnte. Als er springen wollte, bekam er Dünnpfiff. Dazu Klaas mit seinem dämlichen Gekicher. Birger Harms fragte ihn nach seinem letzten Wunsch und rief ihm hinterher: »Fahr zur Hölle, Landratte Flecker.« Aber nachdem er sich überwunden hatte zu springen, war der Rest ein Kinderspiel.
»Ich verlasse dich, Paul.«
Wie bitte? Er besinnt sich auf die Gegenwart.
Viktoria wiederholt ihre Worte. »Ich verlasse dich, weil ich nicht bereit bin, dich zu pflegen. Dazu reicht meine Kraft nicht. Ich habe immer zu dir gehalten, mir vieles gefallen lassen, wahrscheinlichzu viel. Aber dafür wusste ich einen Partner an meiner Seite, der die Dinge in die Hand nimmt und sich um alles kümmert. Einen richtigen Mann, keinen Patienten. Ich bin fast zehn Jahre jünger als du und will noch etwas haben von meinem Leben. Für mich ist es auch nicht leicht, Paul.«
Er hört, wie sie aufsteht. Sie atmet schwer und zögert beim Hinausgehen, aber es klingt nicht so, als ob sie weint. Nach siebenunddreißig Ehejahren gibt sie ihm den Laufpass
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