Blaulicht
Kalz das gemeinsame Büro.
»Verschicken Sie die Neuigkeiten über Gerlach gerade an Ihre Facebook-Freunde, Frau Kalamaros?«
»Kandeloros!« entgegnet sie nach einmal tief Durchatmen und fügt hinzu: »Aber Sie können Zaziki zu mir sagen.«
Aus Mattuschs Büro hört man ein merkwürdiges Geräusch – es klingt, als könne sich ein unbegabter Stimmenimitator nicht entscheiden, ob er das Trompeten von Elefanten oder doch lieber Pferdegewieher nachahmen soll.
*
Die Affen, die Nilpferde, die Löwen und Tiger und selbst die nachtragenden Elefanten hatten sich längst in ihren neuen Häusern eingewöhnt, als sich Kurt Schneckendorf, nun frischgebackener Leiter des Hochbauamtes, in zwei weitere Großbauprojekte stürzte: das neue Nürnberger Rathaus am Hauptmarkt und ein Bettenhochhaus auf dem Gelände des Nordklinikums, das wegen seines signifikanten Grundrisses bald nur noch der Y-Bau genannt wurde. Mit diesem Neubau waren die äußeren Kriegsschäden nun fast vollständig beseitigt, aber auch in den Köpfen der Menschen herrschte Aufbruchstimmung. Es wurde wieder gefeiert, es wurde gebaut, es wurde ein Wirtschaftswunder geschaffen und das Leben brummte. Statt Kinderlähmung und Tuberkulose gab es in den späten Fünfziger Jahren immer mehr Auto- und Bauunfallopfer und Herz-Kreislauf-Erkrankungen zu behandeln. Als der Y-Bau eröffnet wurde, schien die Sonne von einem strahlend blauen Himmel herab auf die feierliche Zeremonie. Exakt 50 Jahre später scheint die Sonne wieder auf den Y-Bau und die drei Stationen, die sich wie Satelliten in seinem Orbit befinden, nein, sie scheint nicht, sie brennt sich durch die staubige Baustellenluft auf dem Klinikgelände in Zimmer, in denen Menschen schlafen, dösen, erwachen und immer wieder abtauchen in die Einsamkeit ihrer Erinnerungen.
*
Die Sonne vor dem Fenster gehört zur Welt der anderen.
Sie bestanden da draußen ihre ersten Mutproben auf Rollschuhen und Fahrrädern, erlebten ihre ersten Lagerfeuer am Baggersee und pilgerten zu Rockfestivals auf dem Zeppelinfeld.
Gerlach übte.
Sie schminkten sich als Riff Raff, Frank’n’Furter oder Magenta und warfen Reis in Kinosälen, sie verbrachten Nachmittage und Abende im Chaihaus, wo man auf Matratzen saß und aromatisierten Schwarztee trank.
Gerlach übte.
Sie klauten Apfelkorn und Wermut bei Aldi und erlebten ihre ersten Räusche, sie fuhren mit frisierten Mokicks um die Wette, und auf Feten tanzte man eng zu Ride On von AC/DC oder Love Hurts von Nazareth.
Gerlach übte.
Der Cellist Pablo Casals entdeckte 1889 als Dreizehnjähriger in einem Antiquariat in Barcelona zufällig die Suiten für Violoncello solo von Johann Sebastian Bach und bekannte einmal, er habe sie zwölf Jahre lang studiert, ehe er es wagte, eine von ihnen öffentlich zu spielen.
Wolfgang Gerlach bekam die Noten zum zehnten Geburtstag von seiner Mutter geschenkt und erlebte ab da all seine ersten Male mit ihnen. Was schwarz auf weiß auf dem Notenpult vor ihm lag, war eine ganze Welt, die nur darauf wartete, dass er ihr Farbe verlieh. Eine endliche und doch unerschöpfliche Welt. Er würde, das spürte er schon in seiner frühen Jugend, sein Leben hingeben können, sie zu entdecken, und vor allem legte sie seiner Hingabe keine bösen Überraschungen in den Weg, gab sich ihm ebenso hin wie er sich ihr, während ihn das Leben außerhalb des Musikzimmers mit seiner Launenhaftigkeit täglich aufs Neue irritierte. Wenn er etwas ernst meinte, konnte diese unberechenbare Welt in Gelächter ausbrechen. War sie wiederum ernst, konnte sie ihn zu unkontrollierbaren Lachkrämpfen reizen. Mit vierzehn hatte er einmal den grippeerkrankten Cellisten des String-Art-Quartetts vertreten. Das Ensemble war engagiert gewesen, auf einer Beerdigung den zweiten Satz aus Schuberts d-Moll-Quartett »Der Tod und das Mädchen« zu spielen. Als das Stück verklungen war, überkam ihn beim Anblick der Trauergäste das Lachen, und er rannte aus der Kirche, vergeblich sich mühend, mit dem Taschentuch vor Mund und Nase einen Niesanfall vorzutäuschen.
Es war unvorhersehbar, wie er auf die Welt reagierte. Oder sie auf ihn. Es schien ihr Vergnügen zu bereiten, ihn mit immer neuen ersten Malen zu konfrontieren und sich an seiner Hilflosigkeit zu weiden. Als er mit fünfzehn zu einer Geburtstagsfete eingeladen wurde, war er zum Gaudium seiner Altersgenossen in Anzug und Krawatte erschienen. Dann, bei irgendeinem Stück mit langgezogenen Gitarrenklängen
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