Blaulicht
und unerträglichen Quintparallelen, dessen Komponist offenbar II-V-I-Verbindungen für den Gipfel der Kühnheit hielt, zu dem man »Blues tanzte«, wie sie sagten, hatte sich die blonde Karo aus seiner Klasse, die vielleicht sogar ahnte, dass ihr Hintern ihn schon seit Monaten zu mehrmals täglichem Missbrauch von Tempotaschentüchern trieb, den Spaß erlaubt, ihn beim Tanzen mit ihren Brüsten und sanften Beckenbewegungen zu bedrängen, bis er eine Katastrophe herannahen fühlte, die er nicht mehr aufhalten konnte. Mit einem deutlich sichtbaren Fleck auf der Anzughose war er unter dem Gejohle der sogenannten Klassenkameraden geflüchtet. Irgendeiner hatte noch gerufen: »Jetzt wissen wir wenigstens, dass der Gerlach einen Schwanz hat!«
Er erkannte einen elementaren Unterschied zwischen den schwierigen Stellen in der Musik und den schwierigen Stellen im Leben. Die in der Musik ließen sich üben. Man konnte ihnen mit Beharrlichkeit, Geduld und gedanklicher Durchdringung beikommen, und wenn es Monate, manchmal Jahre dauerte, bis man ein Stück im Kopf und in den Händen hatte. Die Cellosuite in D-Dur, mit der Bach dem Instrument einen immensen Tonumfang erobert hatte, galt noch nach seinen Lebzeiten als ein unspielbares Werk, bis Pablo Casals es zum Erklingen brachte, nachdem er jahrelang damit gelebt und es vollständig durchdrungen hatte.
Aber das Leben ließ sich nicht üben, und schon gar nicht konnte man ihm mit Geduld und Beharrlichkeit beikommen. Das Leben verlangte Schnelligkeit, die Fähigkeit, stets im richtigen Augenblick die richtige Antwort zu geben, die passende Bemerkung zu machen, kurz, überhaupt immer zu wissen, was richtig ist. Vielleicht verlangte das Leben auch, dass man ein niemals erlahmendes Interesse für die unablässig sich ändernde Gegenwart aufbrachte, um sich in ihr behaupten zu können.
Aber was war diese Gegenwart schon, gemessen an der Welt, die Bach erschaffen hatte? Die so vielgestaltig war, so allumfassend tiefsinnig, wehmütig, heiter und bizarr, die den Eindruck machte, als sei sie immer schon dagewesen, und Bach hätte nur aufschreiben müssen, was sein Ohr an einer göttlichen Quelle erlauschte? Und was war der Augenblick gegen das Erlebnis, schon im ersten Stück des Zyklus, im G-Dur-Praeludium, nach und nach die Mehrstimmigkeit zu entdecken und freizulegen, die sich hinter der notierten Einstimmigkeit verbarg? Bach hatte natürlich um die Unvollkommenheit der Zeichen, die er benutzen musste, um das Vollkommene zu Papier zu bringen, gewusst; er hatte seinen Schülern die Stücke, die sie zu üben hatten, stets vorgespielt und gesagt: »So muss es klingen!«
Und Gerlach wusste schon von klein auf um die Unvollkommenheit seiner Hände. Seit seine Mutter zum ersten Mal konstatiert hatte: »Du hast Gerlachhände.« Das hieß: Maurerhände. »Du hast keine Lenbachhände«, sagte sie und hielt ihm ihre Hände hin. Da war die Zeit noch fern, da Wolfgang Gerlach die Unvollkommenheit seiner Hände selbst einsah, als sie zurückblieben hinter dem »So muss es klingen!«, das sein vollkommen ausgereifter musikalischer Verstand ihm sagte.
Und auf diesen Händen ruht eine Weile der Blick des seltsam scharfkantig wirkenden Besuchers, der sich ihm soeben als Hauptkommissar Kalz vorgestellt hat und ihn fragt, ob er sich imstande fühle, einige Fragen zu beantworten.
*
Ein Anruf bei der Inneren Medizin hatte ergeben, dass Gerlach sich seit dem Vorabend wieder bei Bewusstsein befinde und auch in der Lage sei, Besuch zu empfangen.
»Wo genau finde ich Herrn Gerlach?«
»Gleich hinter dem Y-Bau. Auf der Station 20.«
Kalz vertieft sich noch einmal in den frisch ausgedruckten Bericht von Zoe. Der Mann hatte sich offenbar immer mehr der Grenze angenähert, wo ein leichter Hau zu Irrsinn wird und schließlich in Kriminalität kippt. Und es stellte sich die Frage: Was hat er seit dem 21. Januar 2005, dem Tag, an dem er bei Andrea Meinrad und Michaela Probst rausgeflogen war, gemacht? Hätte er sich ein anderes SM-Studio in Nürnberg gesucht, so wäre früher oder später auch dort ein Vorfall aktenkundig geworden. Also muss er sich woandershin orientiert haben, und da dürfte Tschechien nicht nur in geografischer Hinsicht naheliegen.
Das Telefon klingelt, als wolle es seinen Kommentar dazu abgeben. Am anderen Ende der Leitung ist Ivana.
»Ich habe Informationen für Sie, Martin. Wolfgang Gerlach ist bekannt in Krˇcma u Krokodýlího Ocasu und ist gewesen in Hotel
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