Blaulicht
die junge Kriminalbeamtin mehr über das Wesen des Menschen als im Psychologiestudium und ihrer Polizeiausbildung zusammen. Sie hört von Männern, die sich in ihrer Mittagspause wie Säuglinge wickeln lassen, von Männern in Führungspositionen, die sich danach sehnen, vor wichtigen Geschäftsabschlüssen seelisch und körperlich gedemütigt zu werden. Sie sieht Fotos von männlichen Gestalten, vom Kopf bis zu den Füßen in schwarzes, matt glänzendes Latex verpackt, vor Frauen mit Lackkorsagen und extrem hohen Schnürstiefeln kriechen. Sie sieht Aufnahmen von männlichen und weiblichen Körpern, mit hellen Seilen kunstvoll verschnürt, die an speziell angefertigten Holzgestellen baumeln. Sie sieht mannshohe Holzkreuze, die wie ein großes X an der Wand verschraubt sind, und seltsam anmutende Lederschaukeln, die an der Decke hängen. Sie sieht Handschellen, Peitschen, Knebel, Schränke, in denen Spitzendessous und Latexanzüge neben Krankenschwesterkostümen und Babydolls hängen, darunter jede Menge Schuhe und Stiefel, alle mit extrem hohen und spitzen Absätzen. Sie sieht die Manifestationen der menschlichen Phantasie, blickt in das tiefste Untergeschoss der Seele, das in jedem und weit unterhalb der Sexualität schlummert, meist jedoch selbst vor dem eigenen Bewusstsein schamhaft verborgen wird. Und sie sieht die beiden Frauen, die jetzt wieder zusammen mit ihr im Wohnzimmer Eistee durch Strohhalme trinken, schlagartig mit anderen Augen. Was hat der Gerlach von ihnen gewollt? Was hat die zwei Frauen, denen nichts Menschliches unbekannt zu sein scheint, dazu gebracht, einen zahlenden Kunden nicht nur rauszuschmeißen, sondern sich wegen ihm sogar bei der Kripo zu melden? Sie ahnt, dass es hier um einen Teil des Seelenuntergeschosses geht, in dem sich die Arbeit der beiden Prostituierten mit ihrer eigenen überschneidet, und diese Ahnung erzeugt einen Geschmack auf ihrer Zunge, der weit widerlicher ist, als es Häckels Kaffee jemals sein könnte.
Auf der Rückfahrt ins Präsidium fällt ihr Blick auf einen jungen Mann, der mit einem weißen Cellokoffer auf dem Rücken an einer Ampel steht und auf grünes Licht wartet, und sie bekommt trotz der brüllenden Hitze eine Gänsehaut.
*
Mattusch hatte, in seinem Kalender blätternd, einen kurzen gedanklichen Ausflug ins Wochenende unternommen. Am Samstag stünde Deutschland – Argentinien auf dem Programm. Vielleicht im Lederer -Biergarten. Oder doch lieber im Hummelsteiner Park ? Und am Sonntag wieder einmal aufs Land. Seine Frau hat letzte Woche ein bunt illustriertes neues Buch mit Sagen aus der Fränkischen Schweiz entdeckt. Die Weißenoher Biersage hat er schon gelesen. War die nicht von demselben Bronnenmeyer, von dem er zwei Krimis im Bücherregal stehen hat? Und eben, als er überlegte, ob man nicht mit der Enkelin einen Ausflug zum Wildgehege in Hundshaupten machen könnte, rief genau derjenige an, den er erfolgreich für zehn Minuten aus seinem Gedächtnis verdrängt hatte, und teilte ihm mit, dass Sandra Kovács am Montag endgültig in die forensische Klinik Mainkofen überstellt werde.
»Da wird in einigen Bundesländern ein sozialpädagogischer Schmusekurs gefahren, der mit Strafverfolgung nichts mehr zu tun hat. Dem werden wir uns keinesfalls anschließen.«
Der Fall ist komplizierter, als Sie denken , hätte Mattusch gern erwidert, und auf die Verwicklungen mit dem tschechischen Drogenring hingewiesen. Aber das wäre Wasser auf Tobischs Mühlen gewesen. Für den ist die Welt östlich von Bayerwald und Fichtelgebirge ein rotes Tuch. Irgendwer hat Mattusch vor Jahren einmal erzählt, dass Tobisch aus einem kleinen Dorf im Sudetenland, aus der Saazer Gegend, stammen soll, wo im Jahr 1946 drei tschechische Soldaten gut die Hälfte der Bevölkerung aus Rache für Naziverbrechen niedergeschossen haben, und erst kürzlich kam ihm zu Ohren, dass die Angehörigen der Opfer, darunter auch Staatsanwalt Tobisch, Anzeige wegen Mordes erstattet hätten. Und außerdem war ihm wieder eingefallen, dass er, die Tschechen betreffend, womöglich nicht auf dem neuesten Stand der Dinge war – der Kalz hätte doch schon längst wieder aufkreuzen müssen. Wo steckte der bloß?
Zum gefühlt fünfzigsten Mal in dieser Woche begibt er sich zum Getränkeautomaten und meditiert über dem Angebot. Ein Kollege stößt ihn im Vorbeigehen am Oberarm.
»Na, Helmut? Wartest drauf, dass ein Eiskaffee rauskommt?«
Da sieht er Kalz am Ende des Flurs
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