Blausäure
sich, einen völlig anderen Kurs zu steuern.
Vier
Stephen Farraday
S tephen Farraday dachte an Rosemary – dachte an sie mit jenem ungläubigen Staunen, das ihr Bild immer in ihm hervorgerufen hatte. Normalerweise verdrängte er schon den bloßen Gedanken an sie, aber sie war im Tod ebenso beharrlich wie zu Lebzeiten – und weigerte sich mitunter, derart willkürlich verbannt zu werden.
Seine erste Empfindung war immer dieselbe, ein rasches, unkontrolliertes Frösteln, wenn er sich an die Szene im Restaurant erinnerte. Wenigstens daran wollte er nicht mehr denken. Er wollte sich an die lebendige Rosemary erinnern, wie sie gelächelt, geatmet, ihm in die Augen gesehen hatte…
Was war er doch für ein Narr gewesen – unglaublich!
Er würde nie aufhören, sich darüber zu wundern. Wie hatte ihm das alles widerfahren können? Er konnte es nicht begreifen. Es kam ihm vor, als sei sein Leben in zwei Teile zerfallen, der größere ein vernünftiges, ausgewogenes, geordnetes Vorwärtsschreiten, der andere eine kurze, hemmungslose Verrücktheit. Die beiden Teile gehörten einfach nicht zusammen!
Bei all seiner Kompetenz und seinem scharfen Intellekt fehlte Stephen die Herzensklugheit, um zu begreifen, dass sie sich in Wahrheit hundertprozentig ergänzten.
Wenn er auf sein Leben zurückblickte, taxierte er es durchaus kühl und ohne übertriebene Gefühle, aber mit einer gewissen eitlen Selbstzufriedenheit. Schon in frühester Jugend hatte er beschlossen, dass er es im Leben zu etwas bringen wollte, und trotz mancher Schwierigkeiten und Benachteiligungen hatte er es geschafft.
Die Prinzipien, nach denen er vorging, waren schlicht. Er glaubte an die Macht des Willens. Und dass, wo ein Wille war, sich auch ein Weg finden würde!
Beharrlich hatte schon der kleine Stephen Farraday daran gearbeitet, seinen Willen zu kultivieren. Er konnte im Leben mit wenig Unterstützung rechnen, außer derjenigen, für die er selber sorgte. Mit sieben – er war zart und blass, aber die hohe Stirn und das ausgeprägte Kinn verrieten Durchsetzungskraft – beschloss er, dass er hoch hinauswollte, sehr hoch. Auf seine Eltern, das wusste er bereits, konnte er dabei nicht bauen. Seine Mutter hatte unter ihrem Stand geheiratet – und bereute es. Sein Vater, ein kleiner Bauunternehmer, gerissen und knauserig, wurde von Frau und Sohn gleichermaßen verachtet. Für seine Mutter, diese schwer fassbare, ziellose und launische Frau, hatte Stephen nur ein ratloses Unverständnis übrig. Bis er sie eines Tages halb unter den Tisch gesunken vorfand. Die leere Eau-de-Cologne-Flasche war ihr aus der Hand geglitten. Er war nie auf die Idee gekommen, die Ursache für die extremen Stimmungsschwankungen seiner Mutter im Alkohol zu sehen. Sie trank weder Schnaps noch Bier, und er hatte nie geahnt, dass ihre Leidenschaft für Eau de Cologne noch einen anderen Grund haben konnte als ihre vage Ausrede, sie habe Migräne.
In jenem Moment erkannte er, dass er für seine Eltern wenig Zuneigung empfand. Und sie vermutlich auch nicht für ihn, wie er scharfsinnig folgerte. Er war klein für sein Alter, ein ruhiges Kind, das zum Stottern neigte. Sein Vater hielt ihn für einen Hänfling. Ein braver Junge, der wenig Ärger machte. Er machte keinen Hehl daraus, dass er lieber einen Rabauken zum Sohn gehabt hätte. «In dem Alter hab ich ständig was ausgefressen…» Manchmal, wenn er Stephen betrachtete, wurde es dem Vater peinlich bewusst, dass er seiner Frau sozial unterlegen war. Stephen kam ihrer Familie nach.
Ruhig und mit wachsender Entschlossenheit entwarf Stephen seinen Lebensplan. Er würde Erfolg haben. Als erste Willensprobe entschloss er sich, sein Stottern zu bezwingen. Er übte, langsam zu sprechen, mit einem kleinen Zögern zwischen den Worten. Und mit der Zeit wurden seine Anstrengungen mit Erfolg gekrönt. Er stotterte nicht mehr. In der Schule arbeitete er eifrig mit. Er strebte nach Bildung, denn Bildung, Wissen, war Macht. Bald wurden die Lehrer auf ihn aufmerksam und förderten ihn. Er erhielt ein Stipendium. Die Schulbehörde setzte sich mit seinen Eltern in Verbindung – der Junge war viel versprechend. Man überredete Mr Farraday, der mit seinen billigen Fertighäuschen nicht schlecht verdiente, Geld in die Schulbildung seines Sohnes zu investieren.
Mit zweiundzwanzig hatte Stephen seinen Oxford-Abschluss in der Tasche. Er hatte einen Ruf als gewandter und witziger Redner erworben und war ein talentierter Artikelschreiber. Auch
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