Blausäure
war’s einer von ihnen oder der Kellner, Giuseppe Bolsano. Ich nehm ihn mir heute Morgen noch einmal vor – dachte, Sie wollten vielleicht dabei sein –, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er irgendetwas mit der Geschichte zu tun hat. Arbeitet seit zwölf Jahren im Luxembourg – guter Leumund, verheiratet, drei Kinder, ausgezeichnete Referenzen. Versteht sich prächtig mit den Gästen.»
«Bleibt die Runde am Tisch.»
«Ja. Dieselben Leute wie bei Mrs Bartons – Tod.»
«Wie war das damals eigentlich?»
«Ich hab mich noch mal reinvertieft, es besteht ja offensichtlich ein Zusammenhang zwischen den beiden Fällen. Damals war Adams zuständig. Es war nicht das, was wir einen klaren Fall von Selbstmord nennen, aber Selbstmord war die wahrscheinlichste Lösung, und da es keine direkten Indizien für Mord gab, mussten wir’s als Selbstmord absegnen. Blieb nichts anderes übrig. In unseren Akten haben wir, wie Sie wissen, unzählige solcher Fälle. Selbstmord mit Fragezeichen. Die Öffentlichkeit weiß von den Fragezeichen nichts – aber wir denken daran. Manchmal ermitteln wir im Stillen weiter, und gelegentlich tritt dabei tatsächlich etwas zu Tage – gelegentlich auch nicht. In diesem Fall trat nichts zu Tage.»
«Bis gestern Abend.»
«Bis gestern Abend. Irgendjemand gibt Mr Barton einen Wink, dass seine Frau ermordet wurde. Mr Barton geht der Sache auf eigene Faust nach – verkündet quasi coram publico, dass er eine heiße Spur verfolgt – ob das stimmt oder nicht, sei dahingestellt – aber der Mörder glaubt es – er bekommt es mit der Angst zu tun und befördert Barton ins Jenseits. So ungefähr muss sich das Ganze abgespielt haben – oder sind Sie anderer Meinung?»
«Nein, nein – dieser Teil scheint ziemlich schlüssig. Weiß der Himmel, was die ‹Falle› war – es gab einen leeren Platz am Tisch. Vielleicht war er für einen unerwarteten Zeugen reserviert. Jedenfalls bewirkte das überzählige Gedeck mehr, als George wohl beabsichtigte. Dadurch wurde der Schuldige so alarmiert, dass er – oder sie – nicht mehr warten wollte, bis die Falle zuschnappte.»
«Nun», sagte Kemp, «wir haben fünf Verdächtige. Und wir haben den ersten Fall als Hintergrundmaterial – Mrs Barton.»
«Also sind Sie jetzt definitiv der Meinung, dass es kein Selbstmord war?»
«Das scheint mir durch diesen Mord bewiesen zu sein. Allerdings denke ich, man kann uns keinen Strick daraus drehen, dass wir damals die Selbstmordtheorie für die wahrscheinlichste hielten. Es sprach ja einiges dafür.»
«Depression nach einer Grippe?»
Kemps hölzernes Gesicht zeigte den Anflug eines Lächelns.
«Das war die offizielle Formulierung. Stimmte mit dem ärztlichen Befund überein und tat niemandem weh. So was kommt jeden Tag vor. Und es gab einen halb fertigen Brief an die Schwester, in dem sie Anweisungen gab, wer welche Sachen erben sollte – das zeigte, dass sie sich mit dem Gedanken getragen hatte, aus dem Leben zu scheiden. Sie war depressiv, die arme Dame, kein Zweifel daran – aber bei Frauen steckt in neun von zehn Fällen eine Liebesgeschichte dahinter. Bei Männern sind es meist Geldsorgen.»
«Sie wussten also, dass Mrs Barton eine Affäre hatte?»
«Ja, das kam schnell ans Licht. Es hat sich zwar diskret abgespielt – aber es war nicht weiter schwer herauszufinden.»
«Stephen Farraday?»
«Ja. Sie trafen sich in einem kleinen Appartement in der Nähe von Earl’s Court. Die Sache lief schon länger als ein halbes Jahr. Nehmen wir an, sie hatten einen Streit – oder vielleicht hatte er allmählich genug von ihr – na ja, sie wäre nicht die erste Frau gewesen, die sich in einem Anfall von Verzweiflung das Leben genommen hätte.»
«Mit Zyankali in einem öffentlichen Restaurant?»
«Sicher – wenn sie ein Faible fürs Dramatische hatte – mit ihm als Zuschauer und so. Manche Leute mögen es gern spektakulär. Soweit ich herausgefunden habe, machte sie sich nicht viel aus Konventionen – die Vorsicht war auf seiner Seite.»
«Irgendein Hinweis darauf, dass seine Frau wusste, was sich da abspielte?»
«Soweit wir herauskriegen konnten, hat sie nichts von der Sache gewusst.»
«Kann trotzdem der Fall gewesen sein, Kemp. Die ist nicht der Typ, der sich leicht was anmerken lässt.»
«Sehr richtig. Ich rechne sie alle beide zu den möglichen Tätern. Sie aus Eifersucht, er wegen seiner Karriere. Eine Scheidung hätte ihn ruiniert. Nicht dass Scheidung noch so viel bedeutet wie
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