Blausäure
singt und zwitschert – wie ein kleines Vögelchen… ‹Hat mir ein kleiner Vogel geflüstert›, so hieß es in meiner Jugend. Und das stimmt wirklich, Kemp – diese zwitschernden Wesen können einem eine Menge verraten, wenn man sie nur – zwitschern lässt!»
Vier
D ie beiden Männer trennten sich. Race winkte ein Taxi herbei und ließ sich zu George Bartons Büro in der City fahren. Chief Inspector Kemp nahm – an seine Spesenabrechnung denkend – einen Bus, der ihn in die Nähe des Kidderminster’schen Hauses brachte.
Der Inspektor machte ein grimmiges Gesicht, als er die Stufen zur Eingangstür hochstieg und auf den Klingelknopf drückte. Er betrat, wie er wusste, schwieriges Terrain. Die Kidderminster-Fraktion hatte immensen politischen Einfluss, und ihre Verzweigungen waren wie ein großes Netzwerk über das ganze Land verbreitet. Chief Inspector Kemp glaubte fest an die Unabhängigkeit der britischen Justiz. Sollten Stephen oder Alexandra Farraday in den Tod von Rosemary Barton oder auch von George Barton verwickelt sein, würde sie keine «Verbindung» oder «Protektion» vor den Konsequenzen bewahren. Aber für den Fall, dass sie unschuldig waren oder die Beweise gegen sie für eine Verurteilung nicht ausreichten, musste der zuständige Beamte äußerst vorsichtig auftreten, wollte er nicht Gefahr laufen, von seinen Vorgesetzten Prügel zu beziehen. Angesichts dieser Umstände fand der Chief Inspector an der vor ihm liegenden Aufgabe verständlicherweise keinen großen Gefallen. Höchstwahrscheinlich würden ihm die Kidderminsters, wie er es bei sich nannte, «massiv kommen».
Bald sollte sich jedoch herausstellen, dass Kemps Annahme einigermaßen naiv gewesen war. Lord Kidderminster war ein viel zu erfahrener Diplomat, um in Grobheiten zu verfallen.
Nachdem Kemp sein Anliegen vorgetragen hatte, wurde er von einem würdevollen Butler unverzüglich zu einem düsteren Zimmer an der Rückseite des Hauses geführt. Es war vom Boden bis zur Decke mit Bücherregalen angefüllt; hier wartete Lord Kidderminster mit seiner Tochter und seinem Schwiegersohn bereits auf ihn.
Lord Kidderminster kam ihm entgegen und reichte ihm die Hand.
«Sie sind pünktlich auf die Minute, Chief Inspector», sagte er höflich. «Darf ich vorausschicken, dass ich es sehr zu schätzen weiß, dass Sie zu uns kommen, anstatt meine Tochter und ihren Mann aufs Yard zu bitten – eine Bitte, der nachzukommen sie selbstverständlich gern bereit gewesen wären, hätte es sich als nötig erwiesen – das versteht sich von selbst –, aber nichtsdestoweniger sind sie Ihnen für Ihr freundliches Entgegenkommen sehr verbunden.»
«Ja, wirklich, Herr Inspektor», sagte Sandra mit ruhiger Stimme.
Sie trug ein Kleid aus einem weichen, dunkelroten Stoff, und da das Licht durch ein hohes schmales Fenster von hinten auf sie fiel, erinnerte sie Kemp an eine Glasmalerei, die er einst in einer Kathedrale auf dem Kontinent gesehen hatte. Das lange, ovale Gesicht und ihre etwas eckigen Schultern verstärkten den Eindruck. Die heilige Sowieso, hatte man ihm gesagt – aber Lady Alexandra war keine Heilige – nicht im Entferntesten. Gleichwohl waren auch einige der altehrwürdigen Heiligen aus seiner Sicht merkwürdige Leutchen gewesen, keine einfachen, gütigen und anständigen Christenmenschen, sondern intolerant und fanatisch, grausam gegen sich selbst und andere.
Stephen Farraday stand dicht hinter seiner Frau. Sein Gesicht war völlig ausdruckslos. Er wirkte korrekt und förmlich, ein gewählter Vertreter des Volkes. Das Tier im Mann war gut verborgen. Und doch war es da, wie Chief Inspector Kemp wusste.
Lord Kidderminster ergriff das Wort und verstand es, das Gespräch mit erheblichem Geschick in die gewünschte Richtung zu lenken.
«Ich will Ihnen nicht verhehlen, Chief Inspector, dass dies eine äußerst peinliche und unerfreuliche Angelegenheit für uns alle ist. Dies ist nun schon das zweite Mal, dass meine Tochter und ihr Mann mit einem gewaltsamen Todesfall, der zudem an einem öffentlichen Ort stattfand, in Verbindung gebracht werden – dasselbe Restaurant und zwei Mitglieder derselben Familie. Solcherart Publizität schadet dem öffentlichen Ansehen der Beteiligten immer. Aber sie lässt sich natürlich nicht vermeiden. Das ist uns allen klar, und sowohl meine Tochter als auch Mr Farraday werden sich alle Mühe geben, Ihnen jede erdenkliche Hilfe zu gewähren – wobei wir hoffen, dass die Angelegenheit schnellstens
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