Bleakhouse
Armlänge vor, um sein Gesicht zu beschatten. Er blickt über den Arm auf Mylady.
»Ja«, sagt er, »ich erkundigte mich nach dem Mann und fand ihn. Und was das Seltsamste ist, ich fand –«
»– daß er durchaus keine ungewöhnliche Person ist, fürchte ich«, unterbricht ihn Lady Dedlock schmachtend.
»Ich fand ihn tot!«
»O Gott«, wehrt Sir Leicester Dedlock ab. Nicht so sehr von der Tatsache erschüttert als darüber, daß dergleichen hier erwähnt wird.
»Man wies mich nach seiner Wohnung – einem elenden, armseligen Ort –, und ich fand ihn tot.«
»Sie werden entschuldigen, Mr. Tulkinghorn«, bemerkt Sir Leicester, »ich glaube, je weniger von so etwas gesprochen wird –«
»Bitte, Sir Leicester, lassen Sie mich die Geschichte zu Ende hören«, unterbricht ihn Mylady. »Die Geschichte paßt vortrefflich für die Dämmerstunde. Wie schrecklich! Tot?«
Mr. Tulkinghorn bestätigt es abermals durch ein Kopfnicken. »Ob durch eigne Hand –«
»Auf Ehre!« ruft Sir Leicester. »Wahrhaftig –«
»Bitte lassen Sie mich die Sache zu Ende hören«, sagt Mylady.
»Wie Sie wünschen, Mylady, aber ich muß sagen –«
»Nein, Sie dürfen nichts sagen... Fahren Sie fort, Mr. Tulkinghorn.«
Sir Leicester gibt in seiner Galanterie nach, obgleich er innerlich fühlt, daß solche Unsauberkeiten den obern Klassen vorzusetzen – wahrhaftig –
»Ich wollte sagen«, fängt der Advokat mit unerschütterlicher Ruhe wieder an, »daß ich außerstande bin, Ihnen zu berichten, ob er durch eigne Hand gestorben ist oder nicht. Eigentlich müßte ich einen andern Ausdruck gebrauchen, denn er ist unzweifelhaft durch eigne Hand gestorben, wenn es sich auch nicht aufklären ließe, ob er vorsätzlich oder unabsichtlich gehandelt hat. Die Totenschau sprach sich dahin aus, daß er sich zufällig vergiftet habe.«
»Und was für eine Art Mensch war der Beklagenswerte?« fragt Mylady.
»Das ist sehr schwer zu sagen«, gibt der Advokat kopfschüttelnd zur Antwort. »Er hatte in so herabgekommenen Verhältnissen gelebt und sah mit seiner zigeunerhaften Gesichtsfarbe und seinem wirren schwarzen Haar und Bart so vernachlässigt aus, daß man ihn für den Gemeinsten der Gemeinen hätte halten mögen. Der Arzt jedoch war der Meinung, daß er früher etwas Besseres gewesen sein müßte.«
»Wie hieß der Unglückliche?«
»Er hieß so, wie er sich selbst nannte, aber niemand wußte seinen wirklichen Namen.«
»Auch keiner von denen, die ihn gepflegt haben?«
»Es hat ihn niemand gepflegt. Man fand ihn tot. Vielmehr ich fand ihn tot.«
»Gab es keinen Anhaltspunkt, etwas über ihn zu erfahren?«
»Nein; es war«, sagt der Advokat nachdenklich, »ein alter Mantelsack da, aber... Nein, es fanden sich keine Papiere vor.«
Während dieses ganz kurzen Zwiegesprächs sehen sich Lady Dedlock und Mr. Tulkinghorn ohne die geringste Veränderung in ihrem gewöhnlichen Verhalten zueinander unverwandt an – wie es vielleicht bei der Besprechung eines so ungewöhnlichen Themas natürlich ist. Sir Leicester hat mit dem typischen Ausdruck des Dedlocks auf der Treppe ins Feuer gestarrt. Als die Geschichte zu Ende ist, protestiert er wieder vornehm und betont, da es ganz klar sei, daß der arme Teufel in Myladys Seele unmöglich Erinnerungen erwecken könne – wenn er nicht etwa Bettelbriefe geschrieben habe –, er hoffe nichts mehr von einem Thema zu hören, das Myladys Stellung so fern liege.
»Allerdings eine Schauergeschichte«, sagt Mylady und sammelt ihre Mäntel und Pelze um sich, »aber man fühlt für einen Augenblick ein Interesse dafür. Haben Sie die Güte, Mr. Tulkinghorn, mir die Türe zu öffnen.«
Mr. Tulkinghorn gehorcht ehrerbietig und hält sie offen, während Mylady hinausgeht. Sie geht mit ihrer gewöhnlichen abgespannten Miene und gleichgültigen Grazie dicht an ihm vorüber. Sie sehen sich wieder beim Diner – auch am nächsten Tag – und später Tag für Tag. Lady Dedlock ist immer dieselbe erschöpfte Göttin, umgeben von Anbetern und der furchtbaren Gefahr ausgesetzt, zu Tode gelangweilt zu werden, selbst, wenn sie auf ihrem eignen Altar thront.
Mr. Tulkinghorn ist immer noch dieselbe stumme Schublade für hochadlige Vertrauensmitteilungen, so gar nicht an seinem Platz und doch so vollkommen zu Hause. Sie scheinen so wenig Rücksicht aufeinander zu nehmen, wie nur zwei Leute, die in ein und demselben Haus wohnen, aufeinander nehmen können; aber ob jeder den andern beobachtet, belauert und
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