Bleeding Violet - Niemals war Wahnsinn so verfuehrerisch
erst hergezogen.«
»Wie ich?«
»Sie ist überhaupt nicht wie du.« Er lehnte sich neben mir an den Zaun. Das Päckchen unter seinem Arm stach mir fast in die Brust.
»Einen eigenen Schlüssel.« Ich erinnerte mich an den Schlüssel an Petras Kette, den Schlüssel an Rosalees rotem Armband. »Ein silberner Schlüssel?«
Wyatt zog eine dünne Kette hervor, die sich von einer seiner Gürtelschlaufen in die hintere Hosentasche schlängelte. Am Ende der Kette hingen mehrere Schlüssel, darunter auch ein altmodischer silberner, der fast genauso aussah wie die von Petra und Rosalee. »Jeder bekommt so einen«, sagte er.
» Ich habe keinen bekommen.«
»Du musst hier geboren worden sein.« Er steckte die Schlüssel zurück in seine Tasche. »Oder wie Pet. Wenn du lange genug überlebst, zum Beispiel ein Jahr, dann kommt die Bürgermeisterin und gibt dir einen Schlüssel. Um dich in der Stadt zu begrüßen.«
Und wieder etwas, das mich von den anderen unterschied. Ich sah zu, wie Wyatt an der Ecke eines Flyers zog, der zwischen uns hing, und dabei einen Riss in das falsche Kamera-grinsen des Kindes machte. Er war tief in Gedanken versunken. Ich musste nicht raten, woran er dachte. »Wirst du mich verlassen und zu ihr gehen?«
» Was? «
»Na ja, du bist so zerstreut.«
»Nicht wegen Pet.«
»Warum dann?«
Er hörte auf, an dem Flyer herumzuzupfen, und küsste mich. Dabei drückte er mich gegen den Zaun. Seine Zunge war kalt und schmeckte nach Himbeeren, und sie schien zu schmelzen wie eine Eiskugel, wenn ich an ihr saugte. Er war wie eine Sonnenfinsternis, wie er alles ausblendete außer seinem zuckrigen Geschmack und den heftigen Bewegungen seines Körpers, wie er mich dazu brachte, über ihn herzufallen.
»Lass meinen Arm los«, murmelte ich zwischen den Küssen. Ich wollte ihn an mich drücken. Was ich mit nur einem freien Arm nicht gut konnte.
Er löste sich ein kleines Stück von mir und runzelte die Stirn. »Ich halte deinen Arm nicht fest.«
Ich spürte seine beiden Hände an meinem Gesicht. Und doch konnte ich meinen rechten Arm nicht bewegen.
Ich sah an mir herunter auf einen langen, pinkfarbenen … Anhang, der in meiner Armbeuge festhing, wo all die grünen Venen deutlich hervorstachen – ein glänzender Anhang, so lang wie mein Arm.
»Scheiße«, flüsterte Wyatt. Sein Blick folgte dem Anhang an meinem Arm bis zu der Stelle, wo er in einem Spalt zwischen den Latten des verwitterten Zauns verschwand.
»Du kannst ihn auch sehen?«, wisperte ich und war erleichtert, dass nicht mal ein Hirn wie meins kaputt genug war, etwas dermaßen Abscheuliches zu halluzinieren.
»Ja, aber mach dir keine Sorgen. Ich kümmer mich drum.«
Wyatt trat ein paar Schritte zurück auf die Straße, nahm Anlauf und sprang über den Zaun wie ein Akrobat des Cirque du Soleil .
Ein Gefühl von Einsamkeit rüttelte mich wach. Ich griff nach dem schleimigen Ding, das an meinem Arm hing, und spürte sein rhythmisches Drücken, während es mein Blut saugte wie ein mutierter Blutegel. Ich spürte , wie es mich austrank.
Ich konnte so viel rütteln, wie ich wollte, es ließ mich nicht los. Im Gegenteil, es schloss sich fester um meinen Ellenbogen und riss nun seinerseits so fest an mir, dass ich mit dem Kopf gegen den Holzzaun knallte.
So viel zum Thema ausblenden.
16
Ich lag auf dem Boden und war benebelt, aber nicht benebelt genug, um Poppa nicht zu erkennen, obwohl er einen vanillefarbenen Anzug trug, den er nie im Leben besessen hatte. Ich erkannte aber die lilafarbene Krawatte mit Paisleymuster, die ich ihm gemacht hatte – seine Lieblingskrawatte. Er sah kerngesund und fit aus, und er war so groß, dass mir der Hals wehtat, als ich ihn ansah. So sauber und ordentlich war er, während ich mich wie ein Straßenkind auf dem Boden wälzte.
»Ich kann nichts dafür«, sagte ich ihm und versuchte, mit meiner freien Hand mein Kleid zu richten. »Ich kann nicht aufstehen. Das Ding lässt mich nicht.«
»Das ist kein Ding.« Wie seltsam, seine Stimme außerhalb meines Kopfes zu hören. Es war das erste Mal seit langer Zeit. Wie tief und perfekt sie war. »Du weißt, was es ist. Sag es doch, Hanna.«
Ich starb, und er schimpfte mit mir.
Unglaublich.
Natürlich wusste ich, was es war. Ich schaute mir oft die Wissenschaftssendungen im Fernsehen an. Ich erkannte einen Blutegel, wenn ich ihn sah, sogar einen pinkfarbenen, und ich wusste, wie ich mich fühlte – wie eine mädchenförmige Saftflasche, warm und surreal.
»Du
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