Bleib bei mir, kleine Lady
sie. „Ich hoffe, ich störe Sie nicht.“
„Nein, nein! Aber natürlich nicht. Ich – ich bin hocherfreut. Würden Sie bitte Platz nehmen? Mein Vater muß jeden Moment kommen.“
„Er soll sich ruhig Zeit lassen.“
Ihre Stimme – sie hatte damit schon viel erfahrenere Männer verführt als einen Studenten aus Oxford klang sehr einschmeichelnd.
„Ich fange jetzt erst langsam an zu begreifen, wie schön England zu dieser Jahreszeit ist.“ Sie lächelte.
„Kannten Sie England vorher nicht?“
„Nur London, aber jetzt merke ich, daß es so viel zu entdecken, zu erkunden gibt.“
„Würden Sie – würden Sie es mir gestatten, Ihnen den See zu zeigen, die Wälder und den Park?“
Er überlegte krampfhaft, was er sonst noch an Sehenswürdigkeiten anbieten könnte.
Sie hielt seinen Blick gefangen.
„Würden Sie das tun? Glauben Sie nicht, daß es Sie langweilen und zu viel von Ihrer Zeit in Anspruch nehmen würde?“
Nichts, wirklich rein gar nichts interessierte ihn mehr. Er wollte nur noch mit dieser wundervollen Frau Zusammensein, mit ihr sprechen und mit ihr Spazierengehen.
Sie trafen sich täglich.
Er hatte Sommerferien, das Wetter war heiß und trocken, und der Marquis war mit einer Landwirtschaftsausstellung in der Grafschaft und politischen Pflichten beschäftigt. Er verbrachte fast mehr Zeit in London als auf dem Lande.
„Sie sind ja so lieb zu mir“, sagte Phenice eines Nachmittags zu Virgil. „Ohne Sie wäre ich einsam und unglücklich, eine Fremde in einem fremden Land.“
„Für mich ist es eine Ehre, mit Ihnen Zusammensein zu dürfen.“
Es war unvermeidlich, daß ihre Schönheit und ihr Charme die poetische Seite seines Wesens anregten.
Sie war für ihn zu Aphrodite geworden, zu Helena, zu Cleopatra und zu allen Frauen, die Lord Byron in seinen Gedichten und Sonetten besungen hatte.
Phenice hatte seine Welt verzaubert, sie hatte sie mit überirdischer Musik erfüllt und seine Träume beherrscht.
Er wollte ihr zu Füßen liegen, große Taten vollbringen, sie retten und beschützen. Er hätte sein Leben für sie gelassen.
Und so, wie er nie auf die Idee gekommen wäre, über etwas zu lachen, was ihm heilig war, so wäre er nicht auf die Idee gekommen, sie zu berühren, geschweige denn zu küssen.
Sie war kein menschliches Wesen für ihn, sondern eine Göttin. Er hatte sie auf ein Podest erhoben und betete sie an.
Als sie in der Stille des Waldes zum erstenmal ihre Hand in die seine legte, konnte er kaum akzeptieren, daß er sich der Gefühle, die ihn durchströmten, dieser aufregenden und wundervollen Gefühle, nicht schämen mußte.
Und in einer mondhellen Nacht – sie hatten die anderen Gäste ihrem Bridgespiel überlassen und waren in den Park hinausgewandert – erfuhr er, daß sie ganz Frau war.
Später hatte er nicht mehr gewußt, ob er die Arme um sie gelegt oder sie ihn an sich gezogen hatte.
Ihr Kopf war auf seine Schulter zurückgefallen, und ihre Lippen hatten so einladend gelächelt.
Während des langen, langen Kusses war ihm alles so unwirklich vorgekommen. Er hatte das Gefühl gehabt, eine Göttin habe den Olymp verlassen und sei zu ihm auf die Erde herabgeschwebt.
Nicht wirklich geliebt, sondern angebetet hatte er sie, und erst sehr viel später hatte er begriffen, daß sie ihn umgarnt, hypnotisiert und verführt hatte.
Nur ein einziges Thema hatte es für sie gegeben – ihre Einsamkeit, ihr unglückliches Dasein, die schlechte Ehe, die sie führte.
Phenice war nicht einmal davor zurückgeschreckt, ihm zu erzählen, wie leicht der Marquis sich habe von ihr einfangen lassen und daß sie ihn lediglich wegen seines Vermögens und seiner gesellschaftlichen Stellung geheiratet hatte.
Es war typisch für Phenice oder vielleicht auch für die widersprüchliche Mischung ihres Blutes, daß etwas, was sie endlich besaß, an Wert verlor.
Sie hatte geglaubt, als englische Marquise, als Mitglied des Hochadels alles erreicht zu haben, was sie vom Leben verlangte.
Ihre Freundinnen in Paris waren blaß vor Neid gewesen, aber Paris war weit weg, und Phenice hatte sich noch nie sonderlich dafür interessiert, was andere Frauen dachten und wie sie reagierten.
Männer waren ihre ganze Welt. Männer, die ihr nicht mehr entweichen konnten, wenn sie erst einmal einen Blick auf sie geworfen hatten. Männer, die sie dazu benutzte, sich selbst zu spüren.
„Nimm mich in die Arme, Virgil“, pflegte sie zu sagen. „Ich will mich spüren. Spüren – ehe ich zu alt bin
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