Bleib bei mir, kleine Lady
nahm sich kein Blatt vor den Mund.
„Deine alten Freunde, Virgil, werden begeistert sein, dich wiederzusehen. Aber die Frauen, da lege ich beide Hände ins Feuer, werden dich ablehnen.“
Lord Damien hob die Brauen. „Die Frauen?“
„Na, meine zum Beispiel. Ich kann natürlich darauf bestehen, daß du allein mit uns zu Abend ißt, aber eine Freundin würde sie nie im Leben mit dir zusammen einladen. Du bist tabu, alter Junge. Vergiß nicht, daß du mit der Frau des Marquis von Lynmouth durchgebrannt bist.“
„Aber das ist doch zwölf Jahre her.“
„Eine kurze Zeit für die Erinnerung der älteren Generation. Ganz abgesehen davon ist der alte Marquis einflußreicher denn je. Er ist mittlerweile Führer des Oberhauses, und solange er lebt, hast du meiner Meinung nach nicht die geringste Chance, irgendwo anerkannt zu werden.“
Was es hieß, von der Gesellschaft geschnitten zu werden, wußte Lord Damien nur zu gut. In Italien hatte er es bereits zu spüren bekommen, denn dort hatten er und Phenice zu keiner der guten Familien Zugang gehabt.
Als er London wieder verließ, wußte er also, was ihn erwartete.
Und als er an dem Tor vorbeifuhr, in dessen Steinpfosten das Wappen des Marquis von Lynmouth eingemeißelt war, dachte er, daß die Rache des Marquis weitaus wirkungsvoller und raffinierter war als die Forderung zu einem Duell.
Mit seiner Rückkehr nach Barons’ Hall war Lord Damien in die Vergangenheit zurückgekehrt. In eine Vergangenheit, die so gegenwärtig war, daß sie zur Zukunft werden konnte.
Phenice war tot, aber sie hielt ihn noch gefangen und würde ihn nie freigeben.
Das war seine Strafe. Diese Buße mußte er bezahlen.
Die erste Nacht in Barons' Hall war grauenvoll gewesen. Voll von Schuldgefühlen, vor allem seinem Vater gegenüber, hatte er sich gewünscht, möglichst bald das Zeitliche zu segnen.
Allerdings hatte er nicht einen Augenblick lang versucht, irgendwelche Entschuldigungen für sich anzuführen oder etwa Phenice für das verantwortlich zu machen, was vor zwölf Jahren geschehen war.
Er hatte lediglich auf seine mittlerweile zynische Weise festgestellt, daß er damals ein Übermensch hätte sein müssen, wenn er ihren Gelüsten nach ihm hätte widerstehen sollen.
Am nächsten Morgen war er in die Bibliothek gegangen und hatte das Porträt seines Vaters betrachtet.
„Verzeih mir“, sagte er leise, ging in den Park hinaus und wanderte stundenlang umher.
Am Tag darauf ließ er ein Pferd satteln und nahm sich vor, einen Ritt über den Besitz zu machen.
Doch dann verließ ihn der Mut. Er fürchtete sich vor den vorwurfsvollen Blicken der Farmer und Landarbeiter.
Er ritt den ganzen Tag ziellos über fremdes Land und fiel am Abend wenigstens todmüde ins Bett.
Am dritten Tage versuchte er, zu einer Entscheidung zu kommen. Sollte er bleiben oder sich wieder auf den Weg machen? Sollte er Freunde um sich scharen, die ihn akzeptierten? Sollte er sich wieder in eine Art Gesellschaftsleben stürzen und sich mit Partys betäuben?
Mit Partys und Frauen?
Frauen, Frauen, Frauen … Und alle gleich …
Ehe man auch nur mit ihnen sprach, die Gewißheit, daß man das nicht finden würde, was man suchte …
Und dann, völlig unerwartet und wundervoll wie ein Tautropfen auf einem Blütenblatt, war ihm Gracila begegnet.
5
Gracila hatte geträumt und wachte lachend auf, glücklich darüber, daß sie den gestrigen Tag noch einmal im Traum hatte erleben dürfen.
Sie waren drunten am Bach gewesen, und Lord Damien hatte geangelt.
Er hatte am Abend zuvor seine alten Angelruten in der Waffenkammer entdeckt, hatte sie zum Bach hinuntergetragen und im hohen Gras versteckt.
Am Morgen hatte er Sampson satteln lassen und Millet gesagt, er unternehme einen längeren Ritt, sei zum Mittagessen nicht zurück, würde aber gern ein paar Sandwiches mitnehmen.
Millet war zu Mrs. Bates, der alten Köchin, gelaufen und hatte ein Picknick für Seine Lordschaft bestellt.
Schon ein paar Minuten später hatte Gracila die Nachricht erreicht, daß Seine Lordschaft ausreite, erst am Nachmittag zurückkäme und sie daher das Haus verlassen dürfe.
„Das Wetter ist so herrlich“, sagte sie zu Mrs. Hansell. „Könnte ich nicht ausnahmsweise eine Kleinigkeit zu essen mitnehmen? Es ist doch schade, wenn ich nur wegen des Mittagessens zurückkommen muß.“
„Da haben Sie recht, Mylady“, hatte Mrs. Hansell entgegnet. „Ich sage Mrs. Bates, daß sie Ihnen einen Picknickkorb zurechtmachen
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