Bleib bei mir, kleine Lady
Gedanken, nicht zum Bach hinuntergehen zu können, todunglücklich gewesen. Aber heute nicht. Heute würde sie Lord Damien in der Bibliothek treffen.
„Also, ich habe mir vorgenommen“, sagte Mrs. Hansell und zog den zweiten Vorhang zurück, „Sie nicht gleich damit zu überfallen, aber jetzt muß ich es Ihnen doch erzählen.“
„Was denn?“
„Also, etwas Schreckliches ist passiert, Mylady. Wir hätten um ein Haar unsere Königin verloren.“
„Die Königin?“ wiederholte Gracila.
„Also, in der Zeitung steht, daß irgend so ein Wahnsinniger auf unsere Königin im Park geschossen hat.“
„Ist sie verletzt?“
Mrs. Hansell schüttelte den Kopf. „Gott hat sie beschützt. Aber die Königin muß so mutig gewesen sein wie sonst keine Frau.“
„Was ist denn genau passiert?“ fragte Gracila.
Sie hatte sich schon immer für alles interessiert, was mit der Königin zusammenhing.
Prinzessin Victoria, bis vor sechs Jahren von ihrer Mutter streng beaufsichtigt, war nach dem Tode des Königs über Nacht praktisch von der Schulbank auf den Thron gekommen. Und das mit knapp achtzehn Jahren.
Das ganze Land und natürlich auch Gracila hatten in ihr die reine Märchenprinzessin gesehen. Alles war überzeugt davon gewesen, daß unter ihrer Regentschaft das Land zu Frieden und Wohlstand geführt werden würde.
Alles, was man nur über sie in Erfahrung bringen konnte, wurde erzählt, ihr Bild erschien täglich in allen Zeitungen, man betete sie an.
Hatte schon ihre Krönung ganz England in Aufregung und Begeisterung versetzt, die Heirat mit dem Mann, den sie liebte, übertraf alles. England jubelte.
Jedes junge Mädchen hatte das Gefühl, daß endlich einmal eine Schlacht für die Liebe geschlagen worden war. Zwar seit Generationen daran gewöhnt, daß nicht nur in königlichen, sondern in allen adeligen Familien die Ehe von den Eltern geschlossen wurde, träumte natürlich jedes junge Mädchen von einer Liebesheirat.
Jetzt fragte sich Gracila, warum sie eigentlich nicht darauf bestanden hatte, sich den Mann, mit dem sie das ganze Leben teilen sollte, selbst auszuwählen, so wie die Königin es getan hatte.
Und diese Königin, die die enorme Bürde der Monarchie auf ihren schmalen Schultern zu tragen hatte, war in so großer Gefahr geschwebt.
„Was ist passiert?“ fragte Gracila.
„Also“, sagte Mrs. Hansell, stolz darauf, ihr das Neueste berichten zu können, „Millet hat es mir vorgelesen, und da stand, daß Ihre Majestät vorgestern mit Prinz Albert spazierengefahren sind, und da hat Ihre Majestät gesehen, wie ein dunkelhaariger, finster aussehender Mann mit einer Pistole auf sie gezielt hat.“
„Hat er geschossen?“ fragte Gracila.
„Nein“, antwortete Mrs. Hansell. „Allem Anschein nach hat die Pistole geklemmt oder so. Auf alle Fälle ist der Mann in der Menge verschwunden.“
„Aber man hätte ihn doch festnehmen müssen“, sagte Gracila entsetzt.
„Also, das finde ich auch“, entgegnete Mrs. Hansell. „Wenn Sie mich fragen, ich sage schon immer, daß nicht genug getan wird für die Sicherheit Ihrer Majestät.“
„Und dann?“
„Also, dann steht weiter in der Zeitung, daß Ihre Majestät überzeugt ist, der Mann würde es noch einmal probieren, aber trotzdem wollte sie sich nicht davon abhalten lassen, ihre tägliche Spazierfahrt zu unternehmen. Prinz Albert versuchte sie davon abzubringen, aber sie wollte trotz der drohenden Gefahr an die frische Luft.“
„Das kann ich verstehen“, sagte Gracila.
„Also, dann ist das königliche Paar gestern wieder ausgefahren, aber diesmal hat die Königin die diensttuende Hofdame, Lady Portman, nicht mitgenommen, um diese nicht in Gefahr zu bringen.“
„Das finde ich fabelhaft“, sagte Gracila.
„Also, ich auch“, meinte Mrs. Hansell. „Aber ich sage ja schon immer, daß unsere Königin ein sehr verantwortungsbewußter Mensch ist.“
„Und was geschah während dieser Spazierfahrt?“ fragte Gracila.
„Der schwarzhaarige Mann ist wieder aufgetaucht und hat geschossen. Aus fünf Schritten Entfernung!“
„Und hat nicht getroffen?“
„Nein. Die Pistole hat nur klick gemacht, und dann hatten sie den Mann auch schon festgenommen. In der Zeitung steht, daß die Pistole nicht geladen war.“
„Nicht geladen?“ rief Gracila. „Dann muß es sich um einen Geisteskranken handeln.“
„Das meinen sie in der Zeitung auch, aber wir erfahren bestimmt mehr, wenn der Mann vor den Richter gestellt wird.“
„Gar nicht
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