Bleib bei mir, kleine Lady
ich mir schon lange vorgenommen, aber immer wieder ist mir etwas dazwischengekommen.“
„Und ich mache Ihnen jetzt noch zusätzlich Mühe“, sagte Gracila und wußte schon im voraus, daß Mrs. Hansell protestieren würde.
Den Vormittag damit verbringen zu müssen, Obst auszusteinen oder dergleichen, war ärgerlich, aber irgendwie hatte Gracila das Gefühl, daß Lord Damien am Vormittag nicht mit ihr rechnete.
Ihr Gefühl sollte sie nicht betrogen haben. Sie hörte später, daß er gegen elf ausgeritten war und gesagt hatte, er sei in etwa einer Stunde, also zum Mittagessen, wieder zurück.
Während des ganzen Vormittags freute sich Gracila auf die Stunden, die sie am Nachmittag mit Lord Damien würde verbringen können.
Je später es wurde, desto aufgeregter war sie, und so brachte sie von den köstlichen Dingen, die Mrs. Bates für sie zubereitet hatte, kaum einen Bissen hinunter.
Wie lächerlich es war, daß sie in ihrem kleinen Salon im ersten Stock allein vor dem Essen saß, während Lord Damien im Speisezimmer allein vor seinem Essen saß.
Zusammen eingenommen, hätte die Mahlzeit ein Genuß sein können.
Es gab so vieles, was sie Lord Damien sagen wollte und wozu immer die Zeit zu fehlen schien.
Mrs. Hansell kam und holte das Tablett.
„Und, jetzt machen Sie einen ausgedehnten Mittagsschlaf, Mylady“, sagte sie. „Also, daß Sie mir nicht wieder stundenlang lesen. Damit verdirbt man sich doch nur die Augen. Schlaf braucht der Mensch – das ist gesund.“
„Ja“, entgegnete Gracila. „Ich werde schlafen.“
Mrs. Hansell verschwand mit dem Tablett, und Gracila ging in das Schlafzimmer nebenan. Dort stand sie da und horchte, bis die Schritte der Haushälterin verklungen waren.
Dann schloß sie die Tür von innen ab und steckte den Schlüssel in die Tasche. Man weiß ja nie, dachte sie.
Sie ging in den kleinen Salon zurück und auf Zehenspitzen in den Gang hinaus.
Niemand zu sehen. Schnell war sie an der Treppe und stieg in den dritten Stock hinauf.
Lord Damien hatte ihr gesagt, daß es in dem Gang, der quer durch das ganze Haus lief, ziemlich staubig war und er an den ehemaligen Dienstbotenkammern vorbeiführte.
Es waren an die dreißig Türen. Sie waren alle geschlossen.
Der Korridor machte einen etwas gespenstischen Eindruck, aber Gracila ließ sich davon nicht einschüchtern. Sie kam zu der Treppe und stieg schnell hinunter.
Auf der vorletzten Stufe blieb sie stehen und horchte. Falls jemand Lord Damien in die Bibliothek hatte gehen sehen, stand jetzt bestimmt ein Diener vor der Tür.
Aber niemand war da.
Gracila öffnete die Tür zur Bibliothek.
„Gracila! Ich wußte, daß Sie kommen würden.“
Er sprang aus seinem Sessel auf, und Gracila konnte sich nur mit Mühe zurückhalten. Am liebsten wäre sie zu ihm gelaufen und hätte die Arme um ihn geschlungen.
Doch sie zwang sich, die Tür hinter sich zu schließen und langsam zum Kamin zu gehen.
„Ich wußte, daß Sie kommen würden“, wiederholte Lord Damien. „Ich war heute morgen schon einmal hier und habe ein Stündchen gewartet, bin dann aber ausgeritten.“
„Ja, ich weiß. Mrs. Hansell hatte mich gebeten, ihr beim Einmachen zu helfen, und da wollte ich nicht nein sagen.“
Sie begegneten sich mit allgemeinen Phrasen, aber ihre Augen sagten völlig andere Dinge.
Da der Ausdruck in seinen Augen Gracila plötzlich scheu machte, sah sie sich in dem großen Raum um.
„Jedesmal, wenn ich hierherkomme“, sagte sie, „bin ich von neuem begeistert. Das Deckengemälde hat mich schon als Kind fasziniert. Diese vielen Putten auf ihren rosa Wölkchen …“
Sie sah in die Höhe, und Lord Damien hielt den Atem an. Gracilas Nackenlinie war von einer so edlen Schönheit, daß er mit den Fingerspitzen hätte darüber streichen mögen.
„Ich halte das nicht aus“, sagte er plötzlich, und seine Stimme klang so anders, daß Gracila erschrak.
„Was halten Sie nicht aus?“ fragte sie schnell.
„Ich habe hier auf Sie gewartet, Gracila, und jede Sekunde war wie eine Ewigkeit“, antwortete Lord Damien. „Und jetzt, wo ich Sie hier sehe, weiß ich, daß ich weg muß.“
„Weg?“ wiederholte Gracila. „Aber warum denn? Ich verstehe das nicht.“
„Weil ich Sie nicht heimlich hier treffen kann. Das geht einfach nicht, und für mich ist es die Hölle.“
„Ich – ich verstehe es immer noch nicht“, sagte sie.
„Dann muß ich es so sagen, wie es ist“, entgegnete Lord Damien, und seine Stimme klang rauh. „Ich
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