Bleib ungezaehmt mein Herz
Grund erwartet hatte, sie würden die Traditionen einhalten, wenn sie ihre Beziehung legalisierten. Doch Marcus war offensichtlich nur daran interessiert, daß es schnell über die Bühne ging. Es schmerzte sie, obwohl sie sich einredete, daß ihre eigenen Motive rein geschäftlicher Natur waren. Dies war keine Liebesheirat. Es war ein simpler Handel. Dennoch konnte sie nicht umhin zu fragen: »Muß es unbedingt jetzt sein? Inmitten dieses Blutbades?«
»Es ist eine Sache der Ehre«, erwiderte Marcus kurz. »Meiner... wenn schon nicht deiner.«
Judith spürte seinen Sarkasmus und wurde rot vor Ärger. »Das letzte Mal, als wir über meine Ehre sprachen, hielt ich eine Pistole in der Hand«, erinnerte sie ihn und straffte trotz ihrer Erschöpfung energisch die Schultern.
Marcus' Antwort wurde von einem Jubelruf abgeschnitten.
»Judith... Ju-!« Sie fuhren beide herum und sahen Sebastian im Schatten eines Türdurchgangs stehen.
»Sebastian!« Judith vergaß Marcus, ihren Streit und alles andere und rannte freudestrahlend auf ihren Bruder zu. »Ich habe schon überall nach dir gesucht!«
»Was zum Teufel machst du hier?« fragte Sebastian und umarmte sie. »Ich hatte dich doch in Brüssel gelassen.«
»Du hast doch wohl nicht erwartet, ich würde dort bleiben, wie?« gab sie erschöpft lächelnd zurück.
Er schüttelte reumütig den Kopf. »Da ich dich kenne, hätte ich das wohl nicht ernsthaft erwarten dürfen.« Erst jetzt bemerkte er Marcus, und er hob überrascht die Brauen. »Guten Abend, Carrington.«
»Du hast Charlie nicht gesehen, oder?« fragte Judith ihren Bruder, bevor Marcus auf Sebastians Begrüßung reagieren konnte. »Marcus hat versucht, irgend etwas über ihn in Erfahrung zu bringen.«
»Oh, ich habe ihn vor ein paar Stunden gesehen«, erwiderte Sebastian. »Er war mit Neil Larson zusammen. Larson war verwundet, und Charlie trug ihn vom Feld. Sie haben Larson in einen dieser Wagen gelegt, die nach Brüssel zurückfahren.«
Judith fühlte, wie die Anspannung schlagartig von Marcus abfiel, als wäre ein düsterer Kobold von seiner Schulter gesprungen. »Gott sei Dank«, murmelte er. Die Härte in seinen Augen, der bittere Zug um seinen Mund waren plötzlich verschwunden. Er konzentrierte seinen Blick auf Sebastian. »Davenport, Sie sind gerade zur rechten Zeit gekommen, um uns einen sehr nützlichen Dienst zu erweisen.«
»Ach?«
»Ja, Sie können Ihre Schwester zum Traualtar führen.«
»Ich kann was?«
»Marcus, hättest du etwas dagegen, wenn ich ein paar Minuten unter vier Augen mit meinem Bruder spreche?« fragte Judith schnell.
Marcus verbeugte sich förmlich. »Natürlich nicht. Das Haus des Geistlichen ist neben der Kirche, wie du dir vielleicht schon gedacht hast. Ich erwarte euch beide dann dort, wenn du deinem Bruder alles erklärt hast.«
Judith schaute ihm nach, wie er zu der kleinen Kirche hinüberschlenderte, deren Turm im Laufe des Tages von einer Kanonenkugel zerstört worden war.
»Sprich!« forderte Sebastian sie auf.
Judith erklärte ihm die Situation, so gut sie konnte. Doch trotz ihrer Vertrautheit mit ihrem Bruder war es ihr schon etwas peinlich, zuzugeben, daß sie sich unter dem Ansturm ihrer wilden Leidenschaft so weit von ihrem gewählten Weg hatte abbringen lassen.
Sebastian hörte schweigend zu, und nichts in seinem Gesichtsausdruck zeugte von dem Gefühlstumult in seinem Inneren. Er war schockiert, daß seine gewöhnlich so nüchtern denkende Schwester so völlig ihren Sinn für die Realität verloren haben konnte, einem Augenblick der sinnlichen Ekstase erlegen war, der jetzt versprach, alles zu ruinieren, wofür sie gearbeitet hatten. Er versuchte, Marcus Devlin als den Liebhaber seiner Schwester zu betrachten, bemühte sich zu verstehen, was dieser Mann an sich hatte, daß er eine solche Leidenschaft in Judith erwecken konnte, aber das Bild erfüllte ihn mit soviel Abscheu und Unbehagen, daß er es schnell verdrängte.
Als Judith geendet hatte und Sebastian immer noch schwieg, fragte sie: »Bist du ärgerlich?«
»Ich weiß nicht, ob es das richtige Wort ist«, erwiderte er langsam. »Aber, ja, ich nehme an, ich bin verärgert.« Das -und noch etwas anderes, wie ihm plötzlich klarwurde. Er war eifersüchtig auf Marcus Devlin, der in die enge Ausschließlichkeit ihrer Beziehung eingebrochen war. »Ich will meine Schwester nicht mit einem anderen Menschen teilen!« dachte Sebastian bestürzt. Er war zehn Monate älter als Judith und konnte sich an
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