Bleib uns gesund und behalt uns lieb 02: Briefe und Feldpostbriefe einer deutschen Familie 1928 bis 1946
Leni!
Eigentlich habe ich keine Zeit, Dir einen Brief zu schreiben, ich müßte mich lieber bißchen hinlegen, es wäre mir dienlicher, aber ich will Dir doch auch eine Freude machen. Also, Ulimann hat seinen Einzug gehalten.Mir bangte eigentlich etwas davor, da wir ihm doch eigentlich fremd geworden sind. Aber er ist Gott sei Dank in seinem Element, liebt Opa, ißt und trinkt, schläft nachts durch. Ich bin froh darüber. Er ist anders als Heidi, Küßchen geben scheidet aus bei ihm, er ist ein rechter Lausejunge. Momentan schläft er, es ist 2 Uhr. Papa ist nach dem Garten gegangen, wir kommen mit der Arbeit nicht mehr nach. Es ist so sehr umständlich von hier aus nach dem Garten, erstens muß ich mich nach dem Kleinen richten und zweitens ist es mit der Elektrischen jetzt eine Katastrophe.
Wir hatten jetzt zwei schwere Gewitter. ... Die Äpfel fallen alle herunter, es wird für den Winter nicht viel übrig bleiben. Mutter hat einmal einen Eimer voll mitgenommen von Kunads aus, sie sollten Sonntag nach dem Garten rauskommen, haben aber vergebens gewartet, hinschaffen kann ich sie ihnen nicht.
Heute ist die Frau, die mit uns wohnt, mit Papa hinaus, helfen Äpfel anfädeln, Gläser hat man nicht, müssen wir fleißig trocknen zu Apfelschnitten und Kuchen.
Es ist mir sehr schwer geworden, von Lisa wieder wegzugehen nach hier, wie mir überhaupt jede Umstellung in meinem Alter sehr schwer wird, aber es mußte wohl so sein. Martin hat es sehr bedauert und ich finde das sehr ehrlich von ihm. Mit Mutter Kunads Tod hat sich so manches geändert. – Martin ist heute zur Nachmusterung. Frau Schaffenger hat einen Nervenzusammenbruch gehabt. Lisa wird nicht weit davon sein und dann komme ich. Heute vor acht Tagen, als Annemarie da war, kam Alarm zwei Stunden. Uli war im Keller in ihren Armen eingeschlafen. Der Keller gefällt mir hier gar nicht. Man ist dabei, hier vor dem Hause einen Splittergraben zu bauen. Gestern kam hier Kohle an. Sie wurde auf die Straße geschüttet und habe ich stundenlang geschippt, Papa war noch nicht da und heute ist es aus mit mir. Ich habe heute etwas ganz Dummes gemacht. Habe die Fleischbrühe zum Nachgießen statt in den Wirsing in das Apfelmus, das ich gerade noch von der Flamme gerückt hatte, gegossen, ich hätte heulen mögen. Dann hatten wir einen Apfelkuchen im Gasherd, der nicht fertig wurde, das Gas blieb weg. Neulich gieße ich Maizena statt in die Bratensoße in das Apfelmus, nun das war weniger schlimm, gibt aber immerhin zu denken.
Gestern ist Annemarie wieder nach Budapest und wird sie wohl am 13./14. rum mit Erika zurückkommen. Mutter Schlicht schrieb mir gestern, sie ist z.Z. in Blankenburg in Thüringen und will sie einen Abstecher nach hier machen. Sie muß vorzeitig zurück, weil sie am 3.9. Heinz aus Graz erwartet.
Wenn Ihr noch bleiben könnt, so bleibt nur noch, der Krieg wird noch nicht alle. Die Birnen sind in ungefähr acht Tagen soweit.
Was macht Gretels Gesundheit? Geht es vorwärts? Papa hat Uli in Dresden abgeholt. In Dresden gibt es noch alles. Da stehen Koffer in den Schaufenstern und alles andere. Vor allem gibt es keine kaputten Schaufenster.
Auf Deinen Satz, zu Dir kommt scheinbar niemand gern, will ich lieber nicht erwidern. Wenn ich zu Lisa ging, so weißt Du, daß sie mich nötiger brauchte als Du und für den Sommer hatten wir überdies näher nach dem Garten. Von hier aus ist auch schwierig nach dem Garten zu kommen, probiere es selbst aus. Butter hatte ich leider nur ein Pfund genommen, da ich annahm, die nächste kommt gleich hinterher und zweitens daß jeder etwas haben sollte, so hat sie Mutter Helm noch genommen.
Ich will nun schließen, das Gas brennt wieder, es ist ½ 4 Uhr und ich will versuchen, mit Uli nach dem Garten zu gehen, lohnen tut es sich nicht.
Dir und Heidi herzlichen Gruß und Kuß, san Gretel und Toni viele liebe Grüße
Deine Mutter
Anmerkungen 1944
1) NSV: Nationalsozialistische Volkswohlfahrt
2) L.N.N.: Leipziger Neueste Nachrichten
3) Frau Dr. Weise-Gaudig: Tochter des Leipziger Reformpädagogen und Schulleiters Hugo Gaudig, bis zu ihrem Tod 1976 Hausärztin der Familien Jentzsch und Helm
4) 30. Januar, Jahrestag der Machtergreifung 1933 durch die Nationalsozialisten
5) Am Montag Abend haben wir das erste Mal Federn geschlossen: Federn schliessen heisst, man entfernt den Kiel aus der Feder und füllt die kiellosen Federn und Daunen dann in ein Inlett und schwups hat man ein neues
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