Blick in Die Angst
aufgewühlt war. Ich lächelte verlegen.
»Haben Sie Zeit für einen Kaffee?«, fragte er.
Ich zögerte. Ich wollte einigen Papierkram erledigen, aber im Moment war ich ohnehin zu erschüttert. Es könnte guttun, mit jemandem zu reden, der verstand, was ich durchgemacht hatte.
»Ja, sehr gerne.«
Wir gingen in die Cafeteria, und ich erzählte ihm von meinen Schuldgefühlen, wie nahe mir Heathers Tod ging, und dass ich wünschte, ich hätte mehr getan. Das Hochzeitsfoto von Heather, das Daniel mir gegeben hatte, lag zwischen uns auf dem Tisch, während wir uns unterhielten. Mein Verstand versuchte immer noch, einen Sinn in ihrem Tod zu erkennen, und ich schaute immer wieder auf das Bild, als könnte ich alle Antworten in ihrem Gesicht finden, das für immer ein Lächeln aus glücklicheren Zeiten zeigen würde. Kevin vertraute mir an, dass er ebenfalls schon einmal eine Patientin verloren hatte.
»Ich fragte mich, ob ich wirklich das Zeug für diesen Beruf habe«, sagt er.
Ich nickte. »Genauso fühle ich mich im Moment. Bei jedem Patienten zweifle ich an mir selbst.«
»Das ist völlig normal. Ich habe eine ganze Weile gebraucht, bis ich wieder genügend Selbstvertrauen hatte. Ich bin eine Weile gereist, habe versucht, wieder zu mir zu finden. Dann begann ich, an all die Menschen zu denken, denen ich tatsächlich geholfen hatte, und an all diejenigen, denen ich noch helfen konnte. Es ist unmöglich, jeden zu retten, aber wenn wir in unserem Leben auch nur einen Menschen retten, haben unsere Mühen sich gelohnt.«
»Eine gute Art, die Dinge zu betrachten. Trotzdem habe ich das Gefühl, ich hätte irgendetwas übersehen. Ich hätte sie unter Einzelbetreuung stellen sollen, aber wir hatten gerade dieses Finanztreffen …« Bei einer Einzelbetreuung ist eine Schwester dafür zuständig, den Patienten permanent zu überwachen. Wegen der Mittelkürzungen setzten wir das nur bei Hochrisikopatienten ein, und in Heathers Fall hatte es keine Hinweise auf neuerliche Suizidabsichten gegeben.
»Wenn Sie es beantragt hätten, wäre es abgelehnt worden.« Er hatte recht, aber trotzdem wünschte ich, ich hätte es versucht. »Sie haben alles richtig gemacht, indem Sie sie in das Krisenzimmer verlegt haben. Selbst oben in der Geschlossenen hätte so etwas passieren können. Sie wissen genauso gut wie ich, dass jemand, der sich unbedingt umbringen will, auch einen Weg findet.«
»Stimmt. Aber ein einziger Tag kann viel ausmachen.«
»Dann hätte irgendetwas anderes sie wieder aus der Bahn geworfen.« Er sah mich an. »Sie haben Ihr Bestes getan.«
Ich starrte hinunter auf meinen Kaffee und spielte mit der Tasse herum. Ich vermied es, das Foto und Heathers blaue Augen anzusehen, die mich so anklagend anzublicken schienen. Ihr Mund schien all die Dinge zu sagen, die ich nur dachte. Sie hätten mich retten sollen. Sie haben die Zeichen nicht erkannt.
Kevin beugte sich über den Tisch. »Hey, Sie haben nichts falsch gemacht. Verstanden?«
Ich suchte sein Gesicht nach Anzeichen von Unaufrichtigkeit ab, fand aber keine.
»Sie sind nicht für ihren Tod verantwortlich«, wiederholte er.
Ich schenkte ihm ein Lächeln. »Danke. Ihre Unterstützung tut mir gut. Die Sache hat mich stärker getroffen, als ich anfangs gemerkt hatte.«
»Wir sollten …« Er unterbrach sich, als sein Pager anfing zu piepen. Er schaute nach unten und machte ein enttäuschtes Gesicht. »Die Pflicht ruft.« Er sah mich geradeaus an. »Wenn Sie wieder reden wollen, sagen Sie einfach Bescheid.«
»Mach ich.«
Nachdem er verschwunden war, blieb ich noch einen Moment sitzen, betrachtete mein Spiegelbild im Fenster und überlegte, was Kevin wohl sagen wollte, als er unterbrochen wurde. Ich steckte Heathers Hochzeitsfoto in meine Tasche, dann sammelte ich unsere Tassen ein. Kevins war noch warm von seiner Hand.
14. Kapitel
Heathers Nachruf erschien einen Tag später in der Zeitung, zusammen mit der Ankündigung ihrer Trauerfeier, der die Beisetzung im Memorial Garden folgen sollte, dem Friedhof, auf dem auch Paul begraben lag. Ein schwerer Druck legte sich auf meine Brust, als ich mich an das Geräusch jeder einzelnen Schaufel Erde erinnerte, die auf seinen Sarg fiel, während ich wie betäubt an seinem Grab stand. Ich dachte an Daniel und daran, wie schwer es für ihn sein würde. Sollte ich zu Heathers Beerdigung gehen, um meine Anteilnahme zu zeigen? Ich war mir nicht sicher, ob es wirklich eine gute Idee war, obgleich es sich für einen Arzt
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