Blick in die Ewigkeit: Die faszinierende Nahtoderfahrung eines Neurochirurgen (German Edition)
Es begann regelrecht an mir zu zerren. Mit einem Ruck, der im gesamten riesigen Schacht aus Wolken und betenden Engelwesen, durch den ich nach unten stieg, widerzuhallen schien, wurde mir plötzlich klar, dass die Wesen des Übergangs und des Zentrums – Wesen, die ich anscheinend schon ewig kannte und liebte – nicht die einzigen mir vertrauten Wesen waren. Ich kannte und liebte auch Wesen dort unten – in dem Reich, dem ich mich nun schnell näherte. Wesen, die ich bis jetzt vollkommen vergessen hatte.
Dieses Wissen bezog sich auf alle sechs Gesichter, ganz besonders aber auf das sechste. Es war mir so vertraut. Ich erkannte mit einem Gefühl der Betroffenheit, das an absolute Angst grenzte, dass es das Gesicht von jemandem war, der mich brauchte. Jemand, der sich nie wieder erholen würde, wenn ich ging. Wenn ich jetzt aufgab, wäre der Verlust für diesen Jemand unerträglich – wie das Gefühl, das ich gehabt hatte, als sich die Himmelstore schlossen. Es wäre ein Verrat, den ich einfach nicht begehen durfte.
Bis jetzt war ich frei gewesen. Ich war durch die Wel ten gereist, wie Abenteurer es besonders gut können: ohne einen Gedanken an das eigene Schicksal. Das Ergebnis spielte letztlich keine Rolle, denn selbst als ich im Zentrum war, hatte ich keinerlei Sorgen oder Schuldgefühle darüber empfunden, dass ich vielleicht jemanden im Stich ließ. Das war eines der ersten Dinge gewesen, die ich gelernt hatte, als ich mit dem Mädchen auf dem Schmetterlingsflü gel war und sie mir sagte: »Es gibt nichts, was du falsch machen kannst.«
Aber jetzt war alles anders. So anders, dass ich zum ersten Mal während meiner ganzen Reise richtig Angst hatte. Nicht um mich selbst, sondern um diese Gesichter – und ganz besonders um dieses sechste Gesicht. Ein Gesicht, das ich immer noch nicht identifizieren konnte, von dem ich aber wusste, dass es von entscheidender Bedeutung für mich war.
Dieses Gesicht wurde immer deutlicher, bis ich endlich sah, dass es – dass er – mich tatsächlich anflehte, zurückzukommen und den schrecklichen Abstieg in die Welt dort unten zu wagen, um wieder bei ihm zu sein. Ich konnte seine Worte zwar immer noch nicht verstehen, aber irgendwie gaben sie mir zu verstehen, dass ich Anteil an dieser Welt dort unten hatte; dass für mich, wie man so schön sagt, viel auf dem Spiel stand.
Es war wichtig, dass ich zurückkehrte. Ich war gebunden – und es war eine Bindung, die ich in Ehren zu halten hatte. Je deutlicher das Gesicht zu sehen war, desto klarer wurde mir dies. Und je näher ich kam, desto besser erkannte ich das Gesicht.
Es war das Gesicht eines kleinen Jungen.
23
Letzte Nacht, erster Morgen
Bevor Holley sich mit Dr. Wade zusammensetzte, bat sie Bond, vor der Tür zu warten, damit er nicht mit anhören musste, was, wie sie fürchtete, sehr schlechte Nachrichten sein würden. Doch Bond, der das spürte, blieb ganz in der Nähe der Tür und bekam ein paar von Dr. Wades Worten mit. Genug jedenfalls, um zu verstehen, was wirklich los war: dass sein Vater nicht zurückkommen würde. Nie wieder.
Bond rannte in mein Zimmer und zu meinem Bett. Schluchzend küsste er meine Stirn und rieb meine Schultern. Dann zog er meine Augenlider hoch und sagte direkt in meine leeren, unkoordinierten Augen: »Du wirst wieder gesund, Papa. Du wirst wieder gesund.« Diesen Satz wiederholte er immer und immer wieder in dem kindlichen Glauben, dass er, wenn er ihn nur oft genug sagte, wahr werden würde.
Währenddessen starrte Holley in einem anderen Zim mer am Ende des Ganges vor sich hin und versuchte, Dr. Wades Worte in sich aufzunehmen, so gut sie konnte. Schließlich sagte sie:
»Ich denke mal, das heißt, ich sollte Eben im College anrufen und ihn wieder herkommen lassen.«
Dr. Wade dachte nicht lange über diese Frage nach.
»Ja, ich denke, das wäre das Richtige.«
Holley ging zu dem riesigen Panoramafenster des Konferenzraumes, durch das man die von Sturm und Regen feuchten, aber heller werdenden Berge von Virginia sehen konnte, nahm ihr Handy heraus und wählte Ebens Nummer.
In diesem Moment erhob sich Sylvia von ihrem Stuhl.
»Warte eine Minute, Holley«, sagte sie. »Ich möchte nur noch einmal dort hineingehen.«
Sylvia ging in mein Krankenzimmer und stellte sich neben Bond, der immer noch an meinem Bett saß und still meine Hand drückte. Sylvia legte ihren Arm auf meinen und streichelte ihn sacht. Wie immer in dieser Woche war mein Kopf ein wenig zu einer Seite gewandt. Seit
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